Mit "Nach der Flut das Feuer" legte James Baldwin im Jahre 1962 einen Essayband vor, der die rassistisch geprägte Gesellschaft der USA im Kern traf. 56 Jahre später, sind die darin enthaltenden Texte nach wie vor hochaktuell. Nun erscheinen sie, neu übersetzt, im dtv Verlag.
Es sind poetische, kraftvolle Zeilen, die an die Wurzel gehen. Aus einer tiefen Verletzung heraus geschrieben, durchdrang "Nach der Flut das Feuer" die amerikanische Gesellschaft wie ein einziger Schrei, und zeichnete somit die den Alltag durchdringenden Linien struktureller Rassismen mit klaren Linien nach. Die große Kraft des Buches bestand darin, den Leser, die Bevölkerung und bald schon die Welt mit einer Tatsache so deutlich zu konfrontieren, dass das "Wegsehen" keine Alternative mehr, das "Nicht-Wissen" nicht länger Argument sein konnte.
Ein Brief
"Du wurdest geboren, wo Du geboren wurdest, mit Zukunfts-aussichten, die Deine Aussichten waren, weil Du schwarz bist - aus keinem anderen Grund. Deinem Streben sollten für alle Zeit Grenzen gesetzt sein." schreibt Baldwin in seinem ersten Text, der ein sechsseitiger Brief an seinem Neffen "zum hundertsten Jahrestag der Sklavenbefreiung" ist. Überschrieben ist dieser mit der Zeile "Mein Kerker bebte".
Was der Brief an den Neffen aufzeigt, sind Erfahrungen und Erinnerungen, die einerseits falsche Hoffnungen und Illusionen antizipieren, anderseits Mut und Stärke schenken sollen. Eine Ermutigung aus anderer, aus erlebter und somit realistischerer Sicht, gleichsam das Zerschlagen falscher Erzählungen, die die Möglichkeiten alltäglicher Rassismen reproduzieren. Baldwin antwortet auf solcherlei Erzählung mit der Entwicklung eines starken Selbstbewusstseins:
"Bitte vergiss nie, dass das, was sie glauben, dass das, was sie tun und Dir zumuten, nicht von Deiner Minderwertigkeit zeugt, sondern von ihrer Unmenschlichkeit und Angst." Oder noch klarer: "Du hast keine Veranlassung, so zu werden wie die Weißen, und es gibt nicht die geringste Grundlage für ihre unverfrorene Annahme, sie müssten Dich akzeptieren. Die schreckliche Wahrheit ist, mein Junge: Du musst sie akzeptieren. Das ist mein voller Ernst. Du musst sie akzeptieren, und zwar mit Liebe."
Eine Kirche in Harlem
Im Alter von zehn Jahren wurde James Baldwin, Sohn eines fundamentalistischen Predigers, zum ersten Mal von der Polizei aufgrund seiner Hautfarbe drangsaliert. In "Vor dem Kreuz. Briefe aus einer Landschaft meines Geistes“, welcher der zentrale Text des Buches ist, erinnert sich Baldwin daran, wie er sich mit 14 davor fürchtete, kriminell zu werden. Denn der Weg in die Kriminalität, das ahnte Baldwin bereits, ist für eine gewisse Bevölkerungsschicht mehr oder weniger vorgezeichnet. In einer Kriche in Harlem bricht er vor dem Altar zusammen; ein Erweckungserlebnis, welches dazu führte, dass er drei Jahre lang Jugendprediger wurde. Doch stößt er auch hier bald auf Widersprüche:
„Wenn man an der Liebe der Menschen verzweifelt – und wer ist das nicht schon mal? –, bleibt nur die Liebe Gottes. Aber Gott – und das spürte ich sogar damals, vor so langer Zeit, widerwillig auf diesem fürchterlichen Boden – ist weiß.“
Wie sonst wäre es möglich, Gott mit Rassissmus und Holocaust in Einklang zu bringen? Wie die Liebe Gottes erhalten, in Anbetracht der furchtbarsten Umstände? Die sich aus diesem Widerspruch speisenden Zweifel führten schließlich dazu, dass er die Kriche verließ. Die Kriche, in der es seiner Ansicht nach "keine Liebe gab". Die nurmehr ein "Deckmantel" war, für "Hass, Selbsthass und Verzweiflung."
Die Befreiung aller
James Baldwins Größe bestand unter anderem darin, es nicht zugelassen zu haben, dass aus den selbst erfahrenen und tiefsitzenden Verletzungen ein umgekehrter Rassismus resultiert. In einer Zuspitzung seiner Ausführungen formuliert er die Frage: "Ist Liebe nicht wichtiger als Hautfarbe?" Dahinter verbirgt sich die wichtige Idee, dass die Befreiung der Schwarzen nur mit der Befreiung der Weißen einhergehen kann: "Dieses Land feiert hundert Jahre Freiheit hundert Jahre zu früh. Wir können erst frei sein, wenn sie frei sind." heißt es im Brief an den Neffen. Er hat die unmenschlichkeit im herrschenden System, und damit die Unterdrückung aller erkannt, die immer Grundlage für weitere Unterdrükungsmechanismen ist. Diese Unterdrückung mit dem Glauben an Liebe zu bekämpfen war sein Apell.
Hundert Jahre nach dem Erscheinen von "Nach der Flut das Feuer" scheinen die Themen des Buches mehr als aktuell zu sein. Die systematische und kollektive Unterdrückung kulminiert heut mehr denn je in Selbstbeschränkung und Anteillosigkeit. Vielleicht kann die Neuübersetzung dieser Essays ein scheinbar längst wieder erloschenes Feuer neu entzünden, vielleicht können diese Texte, wenn auch nur partiell bei einigen wenigen, die Selbstbeschränkung lösen und ein stückweit Anteilnahme wieder möglich werden lassen.
James Baldwin: "nach der Flut das Feuer"; neu übersetzt von Miriam Mandelkow, dtv, 2019, 128 Seiten, 18 Euro (Kindle: 15,99)
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