Unter Wasser Unter Wasser 3

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Natürlich war es, wie bei all den anderen Fragen die zuvor in ähnlicher Weise in mir gewütet hatten, auch hier der Fall gewesen, dass der erste Monat der Fragestellungen der furchtbarste war. Im ersten Monat steht man der Frage mehr oder weniger nackt und völlig unbewaffnet gegeüber. Man hat noch keine Verteidigungslinien aufgebaut, man hat die Frage noch nicht betastet, noch nicht berochen, noch nicht studiert, kann ihr also weniger gut entkommen. Man fällt im ersten Monat in die Frage hinein, als wäre sie ein Schacht, der, wie jede Frage, wie jeder Satz, wie jedes einzelne Wort, unendlich weit erscheint. Man durchquert die Frage fallend. Nur fallend kann man sich einer Sache wirklich bewusst werden. Man entdeckt den Ursprung einer Frage nicht, wie man andere Kulturen oder Völker entdeckt, um sie im eigenen Wissen zu ersticken; nein, man tasten fallend ein Mauerwerk ab, krallt sich ins Gestein, und mit etwas Glück, gewöhnt man sich an dieses Hinabstürzen, was fortan lebenslänglich wirkt. Wie der Vater, der seinen Sohn in das Wasser hineinschmeißt, um ihn so das Schwimmen beizubringen (dem Sohn sich das Schwimmen selbst beibringen zu lassen) so schmissen mich die verschiedensten, mir bis heut allesamt unbekannten Gesprächspartner immer wieder in ihre Sätze und also in meine anschließenden Fragen hinein. Der erste Monat ist ein Orientierungsmonat. Einen ganzen Monat lang hat das Kind Zeit um zu begreifen, dass es kurz vor dem Ertrinken ist. Einen ganzen Monat lang schnappt es, das Kind, immer wieder kurzzeitig mit dem Kopf über Wasser, nach Luft. Einen ganzen Monat lang schluckt es literweise Wasser, stets von der Angst begleitet, seine Lunge mit Flüssigkeit zu füllen. Manchmal kommt es im Zuge dieser Zeremonie dazu, dass das Kind ganz oder nur halb ertrinkt. Und ich hatte immer das Gefühl, dass es den nur halbertrunkenen - und also kurz vor dem vollständigen Ertrinken von den Vätern aus dem Wasser gezogenen - Kindern lieber gewesen wäre, wären sie ganz ertrunken. Denn der nur halb ertrunkende Sohn, muss mit der Schande, die er dadruch, dass er nicht in der Lage gewesen war sich selbst vor dem Ertrinken zu retten und also das Schwimmen zu erlernen, über den Vater gebracht hat, weiterleben. Und solch ein Weiterleben bedeutet für den Sohn in den ersten Jahren nach seinem Nur-Halb-Ertrunken-Sein nichts anderes, als als eine wandelnde Enttäuschung zu leben; nicht nur als Verlierer zu leben, sondern als ein durch seine Schwäche den Vater beschmutzenden Verlierer zu leben, und solch ein Leben ist für ihn, für den Sohn, immer weitaus schlimmer als die Vorstellung des eigenen Todes.

Man kann sagen, dass sich das Erlernen des Schwimmens - ein für den Sohn auf ewig mit Panik und Überlebenskampf verbundenes, traumatisches Erlebnis - in stufenartigen Schüben ereignet. Kaskadenartig also. Ebenso wie das Kind kurzzeitig auftaucht und nach Luft schnappt, nur um anschließend wieder, vollkommen entkräftet, unterzutauchen, ebenso verarbeitete ich in diesen Tagen den Satz „Der Körper ist ja politisch“ stufenweise. Und es kann gesagt werden, dass diese kaskadenartige Verarbeitung der Sätze, die all die mich beinahe ertrinken lassenden Unbekannten mir gegenüber geäußert haben, dass sich diese Verarbeitung nirgends so gut verbildlicht wiederfand, wie in dem Bild des In-Den-U-Bahn-Schacht-Hinabsteigens. 3 Monate lang habe ich versucht, in ihren Sätzen das Schwimmen zu erlernen. Beinahe gelang es mir nicht. Es muss gesagt werden, dass ich beinahe gestorben wäre, in den U-Bahn-Schächten. 3 Monate lang todesangst, immer wieder. Es muss mir erlaubt sein zu sagen, dass ich mit jeder weiteres U-Bahn-Stufe flüchtig die Wasseroberfläche durchbrach, auftauchte, nur um von den wiederkehrenden Fragen ein weiteres Mal hinuntergestukt zu werden, und dass ich keinen Vater am Ufer wusste, der mir zur Not hätte helfen können, dass mir also in jeder Sekunde vollkommen bewusst gewesen ist, dass ich ertrinken werde, sollte ich es nicht schaffen, die Sätze aus eigener Kraft heraus zu bewältigen und also das Schwimmen zu erlernen. Der Körperpolitologe hatte mich an jenem WG-Abend ins Wasser gestoßen. Und während ich versucht habe, mich in den auf diesem Abend folgenden Monaten an der Wasseroberfläche zu halten, wurde mir immer klarer, dass ich mit Sicherheit nicht der letzte gewesen war, den er, der Körperpolitologe, auf dem Gewissen hat. Ich dachte daran, dass es eventuell tatsächlich bereits Todesopfer gab, Opfer, die im Nachklang des Satzes „Der Körper ist ja politisch“ und im Bewusst-Werden der Schwachsinnigkeit, die von diesem Satz und von dieser Person, und den meisten der auf dieser Person folgenden Personen - in erster Linie vom Großteil der Studierenden - ausging und ausgeht, ertrunken sind, da sie auf Dauer nicht die Kräfte aufbringen konnten, die notwendig gewesen wären, um sich über Wasser zu halten. Immer deutlicher wurde mir schließlich auch, dass jene Zucht der Körperpolitologen selbst nichts von ihrer Gewaltätigkeit wusste. Dass sie ihre Opfer nicht einmal vergessen konnten, da sie sie niemals als Opfer wahrnahmen. Dass sie blind mordeten und morden, und bis heut die Köpfe der tatsächlich an der Politik der Körper und den Fragementen der Welt Interessierten unnachgiebig ins Wasser tauchen, sie ertrinken lassen. Wissen sie darum, wie viel Menschenleben sie möglicherweise auf dem Geiwssen haben?, fragte ich mich in diesen Tagen. Wissen sie darum, dass sie Menschen in den Tod trieben und treiben? Wissen sie um das von ihnen in die Welt getragene Unglück? Ist es ihnen womöglich egal? Mit diesen Fragen brach allabendlich eine ungeheure Einsamkeit über mich herein. Diese Einsamkeit war keine Leere, war nicht das Gefühl des Nicht-Verstanden-Werdens. Es war vielmehr das ewige Ringen um Luft, als Einziger in einem tiefen Tümpel, umzingelt von Körper, die das Schwimmen bereits erlernt hatten. Mit vom Wasser verschwommenem Blick sah ich die ausgestreckten Arme und die spitzen Finger jener, die durchnässt am Ufer sitzend in der Sonne glänzten, tief Luft holend und selbstüberzeugt. Es waren Jene, die überlebt hatten, ohne jemals gewusst zu haben, worum es ging. Sie dachten nicht ans Ertrinken. Sie schwammen gleich nach dem Aufschlag, gleich nach dem Wurf ins Wasser, sie mussten es nicht erlernen, das Schwimmen, sie schnappten nicht nach Luft. Daher ihr Lachen. Das Lachen über die Ertrinkenen, die um ihr Leben kämpfen. Das Lachen aus einer einwandfrei funktionierenden Lunge heraus. Sie teilen nicht, die Lachenden. Sie waren nur zufällig die Stärkeren, und denken sich nun Gesetze aus. Der Ertrinkene blickt strauchelnd und um Hilfe bettelnd in ihre Augen, immer dann, wenn er sekündlich auftaucht, und sie strecken ihre Arme und ihre Zeigefinger aus, und lachen. Die Lautstärker ihres Lachens ist ihre Art der Machdemonstration.

Auch heute wieder, dröhnt dieses Lachen in meinen Ohren. Es ist allgegenwärtig. Ja, auch heut ist wieder ein Tag des Hinabtauchens. Einer der vielen Tage der Wiedererinnerung, an denen ich durchnässt aufwache, und mich in einem, vom jahrelangen im Wasser Dahintreiben, völlig aufgeqollenden Körper wiederfinde. Der halb-ertrunkende Sohn ist zu einem fortan halb-ertrinkenden Menschen geworden, der sich, auf der Wasseroberfläche um sein Leben ringend, fast hilf- und wehrlos den millionen Ertränkenden gegenübersieht. Ständig strauchelt er, der Halb-Ertrunkene, schnappt nach Luft und kämpft um Atem. Und immer wieder kommt ein stumpfer Körperpolitologe oder Poststrukturalist oder Diskursiver, und schmeißt sich - scheinbar aus Spaß - auf den aufgeqollenden Körper, um ihn mit seinem ganzen Gewicht bis auf den Grund des Tümpels hinunterzudrücken. Der Satz „Der Körper ist ja politisch“ vergeht nicht. Auch die unzähligen anderen Sätze vergehen nicht. Man kann sagen: Die Sätze selbst tauchen auf und ab, begleiten mich, kleben an mir, sind eine mir auf den Rücken geschnallte Last geworden. Mit der Stupidität und Stumpfheit dieser Sätze muss man durch die Welt treiben. Mit der Gewissheit, dass die Mörder nicht um ihre Taten wissen, dass sie niemals zur Rechenschaft gezogen werden, dass sie gewissermaßen vor der Selbsterkenntnis geschütz sind. Damit muss man durch die Welt treiben. Niemand wird sie von ihren Gräueltaten abhalten, niemand kommt ihnen in die Quere. Und man muss eines Tages aufschreiben: Es ist genug. Man muss schreiben: Es ist genug. Man muss aufwachen, vor den Spiegel treten, in sein aufgequollendes Gesicht sehen und sagen: Es ist genug. Und wenn auch nur ein einziger Halb-Ertrunnkender an einem sonderbaren Morgen die Kraft findet zu sagen: Es ist genug, dann beginnt mit diesem Halb-Ertrunkenen an jenem Morgen ein Kampf gegen die Stumpfsinnigkeit, beginnt ein künstlerischer Akt, erweckt die Kunst in der Welt. Für einen kurzen Augenblick. Denn es sind – entgegen der landläufigen Meinung – ständig nur die Halb-Ertunkenen, niemals die nur Ertränkenden gewesen, mit denen die Kunst in die Welt kam. Es ist, genauer genommen, der Umschlag vom Verneinen zum Bejahen, die Verwandlung, das Erwachen der jahrelang gequälten und niedergedrückten Natur. Das Auflehnen gegen die Stupidität ALLER Körperpolitologen, ALLER Nacharmenden und sich in dieser Nacharmung sicher Glaubenden, ein Aufschrei, eine Vernichtung des Begriffe-Gestripps, ein Durchtrennen der Sicherungsgurte, ein Zerschlagen der intellektuellen Rückschlüsse, ein freier Fall, ein freiwilligen Tauchen. Schallendes Gelächter tritt an jenem Morgen zutage, ein Gelächter des „Es ist genug“. Es ist wichtig zu sagen, dass nur die jahrelang Halb-Ertrunkenden die Möglichkeit haben, gegen den Stumpfsinn anzukämpfen. Nur jene, die den Grund des Gewässers erfahren haben können sich, sollten sie es bis dort hin schaffen, solidarisch zeigen am Ufer. Nur Jene mit weit aufgerissenen, adrigen Augen. Mann muss sich das Ertrinken schon gewünscht haben, um frei atmen zu können. Nur dann ist man davor geschützt, ins Fahrwasser der Ertränkenden zu geraten. Denn es ist verlockend, das Hinunterstuken. Das stille Morden läd ein. Es ist genug!

Nun streift er diese Sätze ab, schält sie sich von der Haut: „Der Körper ist politisch“ für „Der Körper ist politisch“ schabt er sich frei. Es sind vielleicht noch 2000, 3000 „Der Körper ist ja politisch“, deren Idiotie auf ihm lastet, 2000 bis 3000 bis heut immer wieder von jenem ihm unbekannten rücksichtslos in die Welt getragene Sätze, gegen denen er ankämpfen will, ankämpfen muss.


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