Am vergangenen Wochenende demonstrierten mehrere Zehntausend... So oder so ähnlich begannen unzählige Nachrichtenagenturen in den letzten zwei, drei Tagen, den sogenannten Anti-Corona Demonstranten ihre Titelseiten zu Füßen zu legen. Wieder zogen die Proteste große Aufmerksamkeit auf sich. Zu viel, findet der Soziologe und Zukunftsforscher Harald Welzer. Muss sich die mediale Berichterstattung eventuell ein wenig mehr Gedanken über Themen wie Aufmerksamkeitsökonomie machen?
Was, wenn der "Sturm auf den Reichstag" in Wahrheit nur ein laues Lüftchen war, welches medial ordentlich aufgeblasen wurde? Was, wenn jene, die von den dort am Wochenende in Berlin Demonstrierenden als Akteure der Lügenpresse bezeichnet werden, in Wirklichkeit der Freund und Helfer der Demokratie-Feinde sind? Beinahe macht es den Anschein, als würden sich die "Mainstreammedien" in genau dieser Rolle wohl fühlen; denn mit jedem weiteren Gespräch über die Versprengten und Besorgten, bestätigen sie diese Rolle ja schließlich.
Hier versuchen die im Namen der Mehrheit Sprechenden, einer Minderheit argumentativ gerecht zu werden, obgleich doch mittlerweile jeder und jede verstanden haben sollte, dass Argumente an dieser Stelle nicht weiterbringen. Der Sozialpsychologe und Zukunftsforscher Harald Welzer hatte dies bereits in seinem im Jahr 2019 gehaltenen Vortrag "Zur Verteidigung der offenen Gesellschaft" verdeutlicht: Subjektiv befinden sich diese Leute nicht im Irrtum, weshalb man ihnen auch nur sehr schwer mit Fakten beikommen kann. Jetzt hat er in einem kurzen RadioEins-Gespräch Stellung zur Corona-Demonstration am Wochenende bezogen.
Worum geht es?
Hier fragt Welzer gleich zu Beginn des Gespräches noch einmal nach dem eigentlichen Anlass der Demonstration. Worum geht es, was ist der Auslöser des Unmutes? Es geht um die Corona-Maßnahmen. Es geht um die Umsetzung ganz banaler Aufforderungen wie das Tragen einer Maske und das Achten auf Abstand. Wenn Menschen glauben, in diesen Aufforderungen einen Angriff auf die Demokratie erkennen zu können, so Welzer, muss man sich auch nicht über den Umstand wundern, dass sie keinerlei Probleme damit haben, gemeinsam mit erklärten Demokratie-Feinden aus dem rechtsextremen Bereich zu demonstrieren.
Auch die medial aufbereitete, "volkspädagogische" Erzählung, dass es sich bei diesen Menschen um verunsicherte Bürgerinnen und Bürger handelt, "die sich vor den Karren von Nazis spannen lassen", sei völlig fehlgeleitet. Denn wer nur verunsichert ist, geht nicht demonstrieren. Am Wochenende in Berlin sahen wir, so ist Welzer überzeugt, waschechte Demokratiefeinde, die sich vollkommen im Klaren darüber sind, warum sie da miteinander demonstrieren. Punkt.
Ist die Gesellschaft gespalten?
Eine weitere krude Erzählung ist, Welzer zufolge, die von einer gespalteten Gesellschaft. Laut mehreren Umfragen gebe es innerhalb der Bevölkerung eine 80 prozentige Zustimmung zu den Maßnahmen der Pandemie-Bekämpfung. Wo, so fragt Welzer, ist denn da bitte die Gesellschaft gespalten? "Wir sagen doch auch nicht wenn es am Wochenende ein Fußballspiel unter Normalbedingungen gibt, mit 40 Tausend Zuschauern, dass die Gesellschaft gespalten ist." Scharf ins Visier nimmt der Sozialpsychologe gegen Ende des Gespräches dann vor allem die Medien und die Politik, die diese "Pandemie-Pegida" durch Überaufmerksamkeit permanent aufwertet. Politik und Medien müssen endlich verstehen, dass sie Teil dieser doch recht fragwürdigen Erzählung sind.
Und in der Tat ist dies ein weiteres Mal der Fall gewesen. Die Titelseiten schwappten über, sämtliche Blätter verfolgten die Demonstration sogar live und erweckten den Anschein, als handele es sich dort um ein politisch außergewöhnliches Event, während man zukunftsweisende Proteste wie etwa die der Fridays for Future Bewegung im direkten Vergleich nur als Randbewegung betrachtete. Sind die Anti-Corona Proteste vielleicht so etwas wie das Junglecamp live und in Farbe? Spielt hier vielleicht die von Rogar Willemsen so oft genannte "Konträr-Faszination" eine Rolle; die Tatsache also, dass man Jene dort als unter sich bewertet, und aus ihnen ein auf- und erregendes Vergnügen macht? Wenn dies der Fall ist, dann sollte man sich zumindest schwer damit tun, sich das Fordern von Meinungsbildung auf die Fahne zu schreiben. Denn alles was dann gefördert wird, sind miese Charakter, mit denen man "im echten Leben" eher wenig zu tun haben will.
Das aktuelle Buch von Harald Welzer trägt den Titel "Alles könnte anders sein: Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen", kostet als Taschenbuch 12 Euro und ist beim S. Fischer Verlag erschienen.
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