Ist die Kapitänin der "Sea-Watch 3", Carola Rackete, eine Heldin oder eine Kriminelle? Stehen Gesetzte über Menschenrechte? Und ist unterlassene Hilfeleistung gleichzusetzen mit Mord? Diese Fragen, so sehr sie auch - kilometerweit - am eigentlichen Thema vorbeigehen, scheinen die wohltemperierten Abende auf der heimischen, deutschen Terasse zu füllen. Kaffee, Bier, Hass, alles, nur keine Lösung. Ein Kommentar.
Es tauchen in diesen Tagen Schriften auf, bei deren Lektüre man nur mit dem Kopf schütteln kann. Da wird beispielsweise die Vermutung angestellt, dass die "Sea-Watch 3" Kapitänin, Carola Rackete, aus rein sexueller Motivation heraus auf das Mittelmeer fährt, um dort Menschenleben zu retten. Weil sie -natürlich, was läge näher - schwarze Männer lieber mag als weiße. Wer kennt ihn nicht, diesen wohl romantischsten aller Anmachsprüche: "Du bist in Sicherheit". Die scheinbar nur allzu sehr hollywood-affinen Autoren und der Titel ihres "Schreibens" soll hier nicht genannt werden. Aus guten Gründen. Lektüre dieser Art ist nicht nur überflüssig, sie ist gefährlich.
Hass und hasserfüllte Bücher
Erweitert und konsumiert werden solcherlei Texte durch den tagtäglich in sämtlichen Kommentarspalten anzutreffenden Stumpfsinn sogenannter User. Das Hass im Netz hoch im Kurs steht ist keine Neuigkeit und bedeutet natürlich auch, dass mit Hass Geld zu machen ist. Hass fördert hasserfüllte Bücher, hasserfüllte Bücher fördern Hass, circulus vitiosus, und schlussendlich muss man sich wundern, dass verhältnismäßig wenig deutsche Autor*innen darum bemüht sind, eine Gegenstimmung zu schreiben. Wir haben zahlreiche pro-europäische Unterschriftensammlungen, doch kaum pro-europäische Streitschriften. Das Thema Europa, samt den längst schon impliziten Teil "Flüchtlingskriese", scheinen sich die mitte-rechts bis rechts Autoren*innen unter den populistischen Nagel gerissen zu haben.
Ganz oben in den "Europa-Bücher"-Listen stehen Titel wie "Der Selbstmord Europas: Immigration, Identität, Islam" des britischen Autors Douglas Murray. Auch in den deutschen Rängen finden wir immer wieder ausländerfeindliche Narrative in den Buchbetitelungen. So lesen wir "Oben und Unten. Abstieg, Armut, Ausländer - was Deutschland spaltet" auf dem Cover eines Buches, welches von Jakob Augstein und Nikolaus Blome verfasst, und im Frühjahr 2019 im Dtv Verlag erschienen ist. Achtung, Emphase: "Abstieg, Armut, Ausländer", diese schöne Triade, die mittlerweile sicher schon die ein oder andere Nazi-Band zu einer neuen, bewegenden Volks-Ballade inspirierte, kommt nicht etwa aus einer extrem-rechten Ecke, sie kommt aus der Ecke: Der Spiegel / Bild.
Die Ohnmacht der Sprache
Fast schon könnte man meinen, die Sprache schwächele zunehmend. Nur "harte" Ausdrücke, möglichst polarisierende Themen, "klickbares" Zeug erhalten Gehör. Schade nur, dass hart, polarisierend und klickbare Themen, Headlines und Artikel zwingend oberflächliche sein müssen. Die Frage "Kriminelle oder Heldin" etwa, die nun häufig mit dem Namen Carola Rackete in Zusammenhang gebracht wird, ist eine Frage, die, sobald man nur ansatzweise über den Kartoffelsuppentellerrand hinausschaut, völlig irrelevant wird. Selbst wenn die Frage lösbar wäre, wäre mit ihr rein gar nichts gelöst. Die Frage selbst aber bleibt als Headline klickbar, konsumierbar, streitbar; und eben das sie dies weiterhin bleibt, ist das eigentliche Problem, welches man im Grunde zu erfragen hätte.
3 von 4 Deutschen kommen während eines gemeinschaftlichen Grillabends auf der heimischen Terasse zu dem Entschluss: "Gesetz ist Gesetz". Er wird mit einem "Prost" beschlossen. Und nun? Grenzen hoch? Schießen? Geht irgendwie nicht, niemand versteht warum. Also: Bratwurst wenden und ab in die Kommentare, Stimmung machen. "Ausländer", "Abstieg", "Armut" steht da, eigentlich schon ein verkaufssicherer Buchtitel. Einer schreibt, verdient, und alles beginnt von vorn.
Für die Überforderung
  Literatur ist Überforderung, sagte Roger Willemsen einmal. Und natürlich bleibt sie es auch weiterhin. Natürlich gibt es weiterhin lesenwerte Bücher und Beiträge, die sich darum bemühen, einfache Antworten nachvollziehbar zu übergehen, und ein gewisses Gefühl für Tiefe zu schaffen. Vielleicht ist es in diesem Sinne notwendig, ein Loblied auf die Überforderung zu singen, ein Lied, welches nicht nur innerhalb akademischer Institutionen erklingt, sondern über diese Grenze hinaus. Erst wenn Überforderung wieder Größe bedeutet, wenn "Ausländer", "Abstieg" und "Armut" überhört werden und sich stattdessen "Menschlichkeit" in den Kommentarspalten bewähren kann, werden die nur allzu reizerisch geschriebenen Artikel übersehen, überlesen, und sich Hass zur gemeinsamen Freunschaft gegen einen gemeinsamen Feind entwickeln können.
  
  
  
Topnews
Geburtstagskind im Oktober: Benno Pludra zum 100. Geburtstag
Das Geburtstagskind im September: Roald Dahl – Der Kinderschreck mit Engelszunge
Ein Geburtstagskind im August: Johann Wolfgang von Goethe
Hans Fallada – Chronist der kleinen Leute und der inneren Kämpfe
Ein Geburtstagskind im Juni: Bertha von Suttner – Die Unbequeme mit der Feder
Ein Geburtstagskind im Mai: Johannes R. Becher
Ein Geburtstagskind im April: Stefan Heym
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Jenny Erpenbeck gewinnt Internationalen Booker-Preis 2024
Martin Sonneborn auf Platz 1 der Paperbackliste
Jacek Dehnel verlässt Berlin und kehrt nach Warschau zurück: Scharfe Kritik an Deutschland
Sophie Passmann: Coolness, Souveränität und Vielgeistigkeit
Wie wirken sich digitale Angebote auf den Buchmarkt aus?
Übersetzungsstreit um Amanda Gormans Gedicht "The Hill We Climb" - Wer darf was?
Markus Ostermair punktet mit Debütroman "Der Sandler"
Das sind die Gewinner des NDR Kultur Sachbuchpreis 2020
NDR Sachbuchpreis 2020: Das sind die drei Finalisten
Autor Günter Wallraff über Tönnies: Eine Aufgabe für den Verfassungsschutz
Ferdinand von Schirach: Für eine europäische Verfassung
Richard David Precht über Corona-Maßnahmen: "In Teilen offenkundig überreagiert"
In Erinnerung an Marcel Reich-Ranicki: ZDF zeigt große Doku
Medienkritik: Bringt das ZDF genügend Literatur?
Richard David Precht über Corona-Maßnahmen und Klimawandel
Ein Rachefeldzug, quer durch die Medien
Aktuelles
Bücherfestival Baden-Baden 2025
Saidi Sulilatu – Finanzen ganz einfach
Astrid Lindgren: Die Brüder Löwenherz
Herbst der Utopien – warum wir das Hoffen verlernt haben
Heart of the Damned – Ihr Versprechen ist sein Untergang von Julia Pauss –„Auf alle Diebe wartet der Tod. Nur auf mich nicht.“
Bonds of Hercules – Liebe das Monster in mir von Jasmine Mas – Wenn der Funke zur Fessel wird
Die Holländerinnen von Dorothee Elmiger – Aufbruch ins Offene: Wenn True Crime zur Fata Morgana wird
Leider Geil von Sophie Ranald – Vom „braven Mädchen“ zur eigenen Stimme
Das Haus meiner Schwester von Rebekah Stoke – Glitzer, Gier, Grenzen
„Herr Lehmann“ – Sven Regeners melancholisch-komisches Kneipenkonzentrat
Welcome Home – Du liebst dein neues Zuhause. Hier bist du sicher. Oder? von Arno Strobel – Wo Sicherheit endet und Paranoia anfängt
Sven Regener wird Mainzer Stadtschreiber 2026
Tucholsky – Mit 5 PS: Fast 100 Jahre Literatur auf Störgeräusch
Percival Everett – Dr. No
"Umbenannt"
Rezensionen
Tolstoi: Krieg und Frieden
Falling Like Leaves von Misty Wilson – Herbstluft, Herzklopfen, Heimkehr