Denis Scheck nimmt für die Augsburger Allgemeine die aktuelle Bestsellerliste unter seine Lupe – und zeigt sich dabei ungewohnt milde. Zehnmal deutsche Bestseller-Belletristik, zehnmal Hoffnung, Furcht und das unausgesprochene Versprechen, dass sich hinter Verkaufszahlen gelegentlich sogar Literatur versteckt. Und siehe da: Der sonst so angriffslustige Literaturkritiker kommt dieses Mal fast freundlich daher. Vielleicht liegt’s an der Hitze. Oder daran, dass sich die Liste erstaunlich gut liest.
Denn zwischen DDR-Moritat, Pflegeheimdrama und Elefantensatire tummeln sich einige erstaunlich lesbare, teils sogar originelle Bücher. Schecks Fazit: weniger Plattitüden, mehr Potenzial. Und ganz ohne Schelte geht es natürlich trotzdem nicht.
Platz 10: Christoph Hein – „Das Narrenschiff“ (Suhrkamp)
Hein, das stille Gewissen der ostdeutschen Literatur, schreibt einmal mehr gegen das Vergessen – und gegen das Verdrängen. Sein neuer Roman sei, so Scheck, ein „figurenreicher Gesellschaftsroman über Mitläufer, Denunzianten und die schrecklich seltene Ressource Rückgrat“. Kein lauter Wurf, aber ein präziser. Die DDR als Charakterstudie – distanziert, klar, notwendig.
Platz 9: Andrea Sawatzki – „Biarritz“ (Piper)
Ein Demenzdrama ohne Betroffenheitskitsch, eine Mutter-Tochter-Beziehung ohne sentimentale Weichzeichner. „Je weiter ich las, umso mehr bewunderte ich Sawatzkis Studie einer komplexen Mutter-Tochter-Beziehung“, schreibt Scheck und meint das durchaus als Lob. Keine Feelgood-Familiengeschichte, sondern ein präziser Blick auf soziale Kälte, Sedierung statt Zuwendung – und das in einem bemerkenswert dichten Ton.
Platz 8: Takis Würger – „Für Polina“ (Diogenes)
Normalerweise löst Würger im Feuilleton „regelmäßig Schnappatmung“ aus, diesmal jedoch nicht. Scheck lobt die „mit leichtem Anschlag erzählte Liebesgeschichte“ um Hannes und Polina und sieht darin sogar das Zeug „zum Evergreen“. Wer hätte das gedacht? Würger kann offenbar auch leise – und genau das macht ihn in diesem Fall lesenswert.
Platz 7: Heinz Strunk – „Kein Geld Kein Glück Kein Sprit“ (Rowohlt)
Hier wird’s bitterkomisch: Strunk beschreibt ein Brillengestell als „Überbleibsel aus den Zeiten des Warschauer Paktes“ – und Scheck ist überzeugt: „Ein Glücksfall.“ Die Short Stories pendeln zwischen Lakonie und Lebensverdruss, präzise beobachtet und messerscharf erzählt. Der ehrlichste Text in dieser Liste – nicht gefällig, aber treffend.
Platz 6: Julia Engelmann – „Himmel ohne Ende“ (Diogenes)
Hier endet die Milde. Engelmanns Coming-of-age-Roman wird bei Scheck zur „hirnlosen Geschichte“, in der Sätze wie „Man kann seinem Leben jederzeit ein neues Leben anfangen“ das Niveau diktieren. Die Erzählerin teilt den Himmel mit der Menschheit – und die Leserschaft mit Sprachklischees. Schecks Fazit: Binsenweisheiten, die selbst Kalenderblätter erröten lassen.
Platz 5: Gaea Schoeters – „Das Geschenk“ (Zsolnay)
Was, wenn Simbabwe seine Elefanten nach Deutschland exportiert? Was wie eine Parodie klingt, wird bei Schoeters zur „profunden und einsichtsreichen Satire auf den internationalen Politikbetrieb“. Scheck lobt das Buch als „blitzgescheite, unverschämt amüsante Geschichte über eine Migrationskrise“ – klug, bissig und ohne moralischen Zeigefinger.
Platz 4: Andreas Eschbach – „Die Auferstehung“ (Kosmos)
Die drei Fragezeichen sind erwachsen – und literarisch erstaunlich vital. Scheck sieht darin „ein großer Literaturspaß wie die Sherlock-Holmes-Pastiches aus den Federn Michael Chabons oder Julian Barnes“. Nostalgie ohne Peinlichkeit, ein intelligentes Spiel mit Popkultur und Genre. Das funktioniert – und zwar besser als man denkt.
Platz 3: Trude Teige – „Wir sehen uns wieder am Meer“ (Fischer)
Frauenroman trifft auf Geschichtsspektakel – und kippt in Kitsch. Eine Norwegerin liebt einen Besatzungssoldaten, eine Ukrainerin einen Kollaborateur, eine Krankenschwester wird zur Spionin. Laut Scheck „reichlich Kitsch und Kolportage“. Ein Roman, der viel will, zu viel gibt und am Ende vor allem eines ist: erzählerisch überladen.
Platz 2: Isabel Allende – „Mein Name ist Emilia del Valle“ (Suhrkamp)
Allende lässt eine uneheliche Tochter zur Kriegsreporterin im chilenischen Salpeterkrieg werden. Was stark beginnt, gerät laut Scheck schnell in „Femikitsch schlimmster Sorte“. Zu viel Pathos, zu wenig Tiefe – ein Buch, das seiner Protagonistin nicht gerecht wird, weil es jede Nuance mit Sentiment übermalt.
Platz 1: Beatrix Gerstberger – „Die Hummerfrauen“ (DTV)
Drei Freundinnen und ein Hummer namens Mr. Darcy – das liest sich laut Scheck wie „eine von der KI geschriebene Panscherei aus Annie Proulx, Dörte Hansen und Delia Owens“. Der literarische Sidekick ist zugleich der glaubwürdigste Charakter. Was als Empowerment beginnt, endet als konstruierte Romantik mit Meeresrauschen.
Und doch...
Schecks sanfter Tonfall täuscht nicht über seine Schärfe hinweg – und doch ist diese Liste ein kleines Sommerwunder. Zwischen Elefanten und Demenz, Detektiven und DDR findet sich Literatur, die sich zumindest Mühe gibt. Und manchmal reicht das ja schon.
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