Am 25. Mai 2025 rückt ttt – titel thesen temperamente ein literarisches Debüt ins Rampenlicht, das sich dem Unsagbaren stellt: Unter Grund von Annegret Liepold. Ein Roman, der sich nicht für das Spektakel interessiert, sondern für die Lücken dazwischen – für das Schweigen, die verwaschenen Erinnerungen, die Risse in den Beziehungen. Und für eine junge Frau, die zu spät aufbricht, um noch rechtzeitig anzukommen.
Wer spricht, wenn alle schweigen?
Franka sitzt am U-Bahnhof Stiglmaierplatz. Barfuß, ohne Plan, ohne Antwort. Das Gericht liegt hinter ihr, der NSU-Prozess, die Schülergruppe, Hannah – ihre Mitbewohnerin, Freundin, fast Vertraute. Eine U-Bahn fährt ein, niemand steigt aus. Das Handy klingelt, sie schaltet es aus. Es ist der denkbar schlichteste Einstieg in eine Geschichte über Schuld, Scham und das Wiederaufgreifen eines Fadens, der nie ganz abgerissen ist.
Die Sprache: reduziert, unaufgeregt, fast spröde. Keine rhetorischen Ausflüge, keine großen Gesten. Aber genau darin liegt die Wirkung. Liepold schreibt gegen das Erzählen an, ihre Sätze stoßen an Grenzen, halten inne, umkreisen das, was nicht gesagt werden kann. Die Kargheit der Sprache ist kein Stilmittel, sie ist Notwendigkeit.
Erzählen gegen das Verdrängte
Franka kehrt zurück in ihr Heimatdorf. Nach Mittelfranken, zu den Himmelweihern, zur Mutter, zur Vergangenheit. Sie will verstehen, was damals passiert ist – in jenen Jahren, als sie nicht aufpasste und plötzlich mittendrin war. In einer Szene, die sich „rechts“ nennt, aber oft nur laut ist, dumpf, männlich und gierig nach Schwäche. Liepold verschweigt nichts, aber sie klagt auch nicht an. Sie beobachtet – und das präziser, als es vielen Reportagen gelingt.
Die literarischen Effekte sind subtil, aber wirkungsvoll. Das Schweigen wird als zentrales Motiv durchgehalten: Es schweigt der Gerichtssaal, es schweigt die Familie, es schweigt Franka selbst – und irgendwann schreit es aus ihr heraus. Die Sprache tastet sich an die Wahrheit heran, verliert sich in inneren Monologen, springt zwischen Gegenwart und Erinnerung. Hannah, die Freundin, ist dabei nicht nur Spiegel, sondern auch Messlatte: Wer darf hier sprechen – und wer versteht?
Rückkehr als Zumutung
Liepold legt den Finger in eine Wunde, die oft übersehen wird: die ländliche Prägung rechter Milieus, ihre unaufgeregte Alltäglichkeit. Sie beschreibt keine Extreme, sondern das, was zu lange „normal“ erschien. Der Dorfkosmos mit seinen Fischweihern und betonierten Gewohnheiten wird nicht karikiert, sondern in seiner Gemachtheit seziert. Die Figur der Fuchsin – Frankas Großmutter – steht dabei sinnbildlich für eine Generation, die sich ihr eigenes Weltbild aus Schweigen und Schläue zimmert.
Es sind kleine, beinahe beiläufige Beobachtungen, die den Text tragen. Die Beschreibung eines WG-Gesprächs, die genaue Wiedergabe eines Schülerausflugs ins Oberlandesgericht, die Geräusche eines Gerichtssaals, der von Schweigen durchdrungen ist. Jede Szene baut auf der vorherigen, ohne dramaturgisch zu forcieren. Und jede Konfrontation – sei sie mit Hannah, der Mutter oder der Tante – verschiebt das Koordinatensystem nur minimal. Aber genug, um etwas ins Rutschen zu bringen.
Der Blick zurück: Keine Erlösung, aber vielleicht eine Haltung
Unter Grund ist kein Roman, der am Ende alles auflöst. Es ist auch keiner, der Erlösung verspricht. Stattdessen steht er für ein Erzählen, das sich dem Schweigen nicht mehr beugt. Die literarische Konstruktion bleibt offen, so wie auch Frankas Versöhnung mit sich selbst nicht garantiert ist. Aber das ist die eigentliche Stärke: Dieser Roman will nichts versöhnen. Er will zeigen, wie schwierig es ist, sich der Vergangenheit zu stellen – vor allem, wenn sie nicht spektakulär, sondern banal war.
Die Autorin- Annegret Liepold
Annegret Liepold, Jahrgang 1990, stammt aus Nürnberg, hat Komparatistik und Politikwissenschaften in München und Paris studiert. Für Unter Grund wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Literaturstipendium der Stadt München, und war Finalistin des open mike. Heute arbeitet sie an der Bayerischen Akademie des Schreibens im Literaturhaus München. Ihr Debüt ist ein stilles, aber beharrliches Statement – literarisch klug gebaut, gesellschaftlich relevant und nah an den Widersprüchen unserer Gegenwart.
Auch in der Sendung
Neben Liepolds Roman beschäftigt sich ttt mit Martin Puchners Kultur. Eine neue Geschichte der Welt, das Kultur nicht als Besitzstand, sondern als Ergebnis von Austausch begreift. Außerdem: ein Blick nach Cannes, wo Mascha Schilinski mit ihrem Film In die Sonne schauen gefeiert wird, und ein Interview mit der Britpop-Band PULP zu ihrem Comebackalbum More.
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