Wenn der Lüfter brummt und niemand fragt, wie’s dir geht – ein Jugendroman aus der Nachhallkammer
Erzählungen über Jugend gibt es viele. Doch die meisten scheitern entweder an der Pose oder an der Pädagogik. Sie sind zu laut oder zu leise, zu moralisch oder zu sehr um Authentizität bemüht. Kurt Prödels Klapper macht das nicht. Er klingt, als hätte sich jemand die Mühe gemacht, das Geräusch von zu früh Geklärtem, von Unausgesprochenem und vom Knirschen einer vergehenden Gegenwart in Worte zu übersetzen. Und das alles im Soundtrack einer Fliege, die gegen das Fenster summt.
Dass Prödel weiß, wie digitale Innenwelten klingen, war zu erwarten. Dass er daraus ein Buch macht, das nicht in Ironie versackt, sondern eine genuine Melancholie entfaltet – das ist überraschend. Klapper ist Coming-of-Age ohne Weichzeichner, Freundschaftsroman ohne Herzchenfilter und Männlichkeitskritik ohne Zeigefinger. Kurz: ein Debüt, das viel leiser ist, als es klingt.
Zwei gegen die Welt, oder: Counter-Strike mit Gefühl
Der sechzehnjährige Thomas, genannt Klapper – der Spitzname hängt an ihm wie das Geräusch an seinen Gelenken – lebt im Sommer 2011 wie viele seiner Generation: im Schatten der elterlichen Sprachlosigkeit, verkabelt mit der Welt, aber allein im Zimmer. Zitroneneistee, YouTube, Shooter-Realität. Dann kommt Bär. Sie ist nicht leise, nicht angepasst und nennt sich auch nicht Vivi Marie. Zwischen den beiden entsteht etwas, das sich nicht Beziehung nennt, aber auch nicht keine ist. Gemeinsamkeiten gibt es genug: Online-Welten, soziale Überforderung, eine tief sitzende Skepsis gegenüber allem, was „normal“ sein soll.
Der Roman erzählt das alles beiläufig, ohne Pathos. Keine wohlgeformten Monologe über das Elend der Welt. Stattdessen: ein Stoßseufzer im Teamspeak, ein Blick zu lang, eine Geste zu wenig. Die Probleme der Eltern – autoritärer Vater, erschöpfte Mutter, Medikamentenschrank in Reichweite – bilden nur den unscharfen Hintergrund. Im Vordergrund: zwei junge Menschen, die versuchen, nicht kaputtzugehen an dem, was man ihnen nicht erklären konnte.
Rückblick aus der Gegenwart: Erwachsenwerden als Fehlfunktion
2025 ist Klapper wieder Thomas, IT-Sicherheitsmann, Innenleben auf Stand-by. Sein Alltag besteht aus Passwortfragen und Pausenbrot, das nie gegessen wird. Die Vergangenheit kommt zurück, als Bär plötzlich wieder auftaucht – nicht real, sondern erinnernd. Was damals nicht gesagt wurde, holt ihn ein. Und plötzlich ist wieder Sommer 2011, nur dass diesmal keiner „Respawn“ drückt.
Prödel konstruiert diese Rückblenden klug, fast zärtlich. Sie wirken nicht wie Flashbacks, sondern wie Störgeräusche im System. Die Gegenwart zerfasert, sobald sie auf das trifft, was nie abgeschlossen war. Kein großes Trauma, kein tragischer Knall – nur ein Stillstand, der nie endete. Und das ist schlimmer.
Stilistisch irgendwo zwischen Chatverlauf und Lyrik
Das Beeindruckende an Klapper ist nicht nur die Geschichte, sondern wie sie erzählt wird. Prödels Sprache ist durchlässig, rhythmisch, manchmal brüchig, immer genau. Da stehen Gamerbegriffe neben zarten Beobachtungen, da zündet eine Punchline direkt nach einer seelischen Verhärtung. Manchmal liest sich der Text wie ein leise mitgetippter Gedankenstrom, manchmal wie ein perfekt gesetzter Reim, der so tut, als wäre er zufällig entstanden. Nichts hier wirkt kalkuliert – und gerade das macht es literarisch so stark.
Es geht um Väter, die nichts sagen, um Mütter, die zu viel aushalten, um Jugendliche, die sich durchs Leben improvisieren. Und es geht um das, was bleibt, wenn man zu früh gelernt hat, wie man funktioniert – aber nicht, wie man fühlt.
Am Ende bleibt ein Echo – und ein sehr gutes Buch
Klapper ist ein leises Buch über eine laute Zeit. Es ist nicht laut, aber auch nicht resigniert. Es zeigt, wie nah man sich sein kann, ohne sich wirklich zu begegnen. Und wie sich das, was man nicht ausspricht, in einem festsetzt wie der Geruch alter Hardware. Kurt Prödel hat kein Buch über die Jugend geschrieben, sondern über ihr Nachglühen. Und darüber, dass man manchmal erst Jahre später merkt, wie viel damals gefehlt hat.
Vielleicht ist Klapper deshalb so bewegend: weil es keinen Trost spendet, aber auch keinen Zynismus braucht. Es reicht, zu zeigen, wie es war. Und wie es hätte sein können.
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