Walle Sayer - "Mitbringsel" Innehalten als Progression

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Der Dichter Walle Sayer ist ein gutes Beispiel dafür, dass oft schon die einfachsten Beobachtungen ausreichen können, um existenzielle Sachverhalte zu beschreiben. Auch in seinem neuen Gedichtsband "Mitbringsel" eröffnet er mit wenigen Worten ganze Welten.

Walle Sayer schreibt mit radikaler Nüchternheit. Sein neuer Gedichtsband trägt den Titel "Mitbringsel". Foto: Köpfer/Narr Verlag

Mit wenigen Worten tiefe Erschütterungen erzeugen. So könnte man das Handwerk des Dichters Walle Sayer umschreiben. Fundament dieses Stils ist eine genaue Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, das Alltägliche niemals als "einfach da" zu betrachten. Seine Sprache ist eine destillierte, seine Verse kristallin. Der 1960 in Bierlingen im Kreis Tübingen geborene Autor hat sich das dörfische Staunen hartnäckig bewahrt.

Verse der schwäbischen Provinz

Vielleicht definiert sich die dörfische, die provinzielle Sprache ja gerade darüber, dass ein von provinziellen Umständen geprägter Autor, der er nicht viel zu sehen bekommt, die wenigen Dinge die er sehen kann, bedeutungsschwerer machen muss. Vielleicht versteckt sich in jedem Grashalm, der, über die Verse, bis in den Himmel wächst, auch der Wunsch danach, endlich mehr sehen zu wollen. In der wabernden Masse der von Großstadtgetöse getriebenen Gegenwarts-Lyrik, schlägt Sayer mit aller Kraft als stiller Beobachter ein.

Was dabei vor allem auffällt: Die Gedichte transportieren jene Ruhe, nach der sich die westlichen Welt ständig sehnt. Innehalten. Atmen. Wenn das ständige Gedröhne unablässig fahrenden Autos zu einem grauen Teppich wird, dann sind die Verse Sayers ein Fremdkörper auf diesem, ein spitzer Stein auf Kunststoff.

Zugleich liest sich "Mitbringsel" wie ein Konglomerat von Restbeständen. Der Schutt alltäglicher Gedankengänge, vom stetigen Sinnieren abgeschlagene Partikel, in Textform gebracht. Der Leser / die Leserin hat nun die wunderbare Aufgabe, aus jenen Partikeln ein neues, eigenes Bild zu gestalten. Die Komplexität dieser Texte besteht eben nicht darin, dass der Autor komplex schreibt; sondern in der Unendlichkeit der möglichen Neubildungen. Genau dadurch wir das "Teelöffelmaß", die "Wasserwaage", die "Schrittmeditation" wieder zu dem, was sie im Grunde sind: Als unterkomplex betrachtete Alltäglichkeiten, in denen ganze Welten stecken. Walle Sayer hilft uns dabei, uns allen bekannten Gegenstände und Situationen, neu, richtig sehen zu lernen.

Die wunderbare Schlichtheit

In dieser Nüchternheit steckt natürlich auch eine gewaltige Radikalität, ein großes Risiko. Sayer vertaut dieser Schlichtheit vollkommen, und ist vielleicht gerade deswegen ein progressiver Dichter. Denn vielleicht bedeutet Progressivität nicht länger vorausgehen, durchbrechen, avandgardistisch sein, sondern in aller Entschiedenheit zu bleiben, zu beobachten. Ein einziges Wort ausschmücken, es bis an den Rand seiner Bedeutung treiben. Ist dies nicht auch das Gegenteil unseres Alltags? Nicht wegschmeißen und neu; sondern behalten, innehalten, in Sätze gießen.


Walle Sayer - Mitbringsel, Köpfer/Narr Verlag, 2019, 121 Seiten, 20 Euro

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