Die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch erzählt in ihren Geschichten vom oft grauen Alltag einfacher Menschen. Ihr wohl berühmtestes Werk "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft" wurde nun vom Suhrkamp Verlag neu herausgegeben. Das Buch wurde um vier - nun erstmals veröffentlichte - Interviews erweitert.
Graue Zukunft - Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl und ihre Schicksale
Von einem "vielstimmigen Werk", welches "dem Leid und dem Mut unserer Epoche ein Denkmal setzt" sprach die Jury in Stockholm zur Verleihung des Literaturnobelpreises 2015. Und in der Tat versteht es die Autorin und Journalistin Swetlana Alexijewitsch hervorragend, Eindrücke und Erfahrungen von Augenzeugen des Lebens in ein Werk zu verpacken, welches den/die Leser/Leserinnen durchdringt und niemals unberührt zurücklässt. Sie selbst bezeichnete sich einmal als "Menschenforscherin". Eine Archivarin des Gedenkens, die chronologisch festhält, was Menschen um- und antreibt, was sie scheitern und aufgeben lässt.
Der Ehemann, ein "verseuchtes Objekt"
1983 debütierte Alexijewitsch mit dem Buch "Krieg hat kein weibliches Gesicht", in dem sie die Stimmen unzähliger Frauen versammelte, die für die Rote Armee im zweiten Weltkrieg kämpften. Hier etablierte sich jene Methode, der die Autorin fortan treu geblieben ist: Aus mannigfaltigen Gesprächen und Interviews knüpft sie ein zusammenhänges Werk, in welchem sich ein Grundtenor all dieser Erfahrungsberichte entfaltet. Auch in ihrem wohl erfolgreichsten Buch "Tschernobyl - Eine Chronik der Zukunft" ist dies der Fall. Dieses hat der Suhrkamp-Verlag nun erneut herausgebracht. Das Buch wurde um vier Kapitel erweitert.
Swetlana Alexijewitsch sprach mit Hunderten von Menschen, mit kranken und sterbenden Soldaten, Medizinern, Wissenschaftlern, und schließlich den "einfachen" Bürgern. Über 20 Jahre lang erarbeitete sie so ein abschreckendes und zugleich rührendes Werk über das größte Atomunglück der Geschichte. Immer wieder fährt sie zum Unglücksort, hört dort den Menschen zu, saugt ihre Schicksale und somit die Folgen jenes Unglückes auf. Sie erzählt vom Alltag der Vergessenen, deren Geschichte man am liebsten, gemeinsam mit dem Unglück selbst, hinter sich lassen würde. Es sind schmerzhafte Erzählungen,
Wir erfahren, wie Ärzte plötzlich davor warnen, geliebte Menschen zu berühren; wie aus dem Ehemann, der als sogenannter "Liquidator" den verstrahlten Müll nach der Katastrophe vom Dach des Reaktors entfernte, plötzlich etwas Lebensgefährliches geworden ist: Ein "verseuchtes Objekt". So trieb die Katastrophe Menschen auseinander, entfremdete einst Geliebte, die nun dem Tod überlassen worden waren. Viele der Liquidatoren starben bereits wenige Tage nach dem Unglück aufgrund der auf sie einwirkenden Strahlung.
Ein persönliches Werk
Swetlana Alexijewitsch, selbst in Weißrussland aufgewachsen, hatte den Umbruch, welcher mit der Tschernobyl-Katastrophe über ihr Land kam, im Kindesalter miterlebt. Retrospektiv schreibt sie von ein "teuflisches Tschernobyl-Laboratorium", welches Plötzlich auf allen Kanälen zu sehen war. Bis dato hatte die ehemalige Sowjetrepublik kaum eine Rolle gespielt, nun stand sie im Mittelpunkt nahezu aller Berichterstattungen.
Rückblickend erinnert sich die Autorin daran, wie man ihr, von heut auf morgen, verboten hatte, Blumen von den Wiesen zu pflücken. Die Erde war verstrahlt, das Wasser tabu, möglichst keine Berührung. Und so werden auch die vielen Geschichten von den immer selben Fragen begleitet: Wie ein neues Leben aufbauen, auf einer verstrahlten Erde, so nahe dem Tod? Wie vergessen können? Und ist das überhaupt möglich?
Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl - Eine Chronik der Zukunft; n.h 2019, Suhrkamp Verlag, 372 Seiten, 18 Euro (Kindle 15,99 Euro)
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