In „Mulans Töchter“ begibt sich die niederländische Journalistin und ehemalige Tischtennis-Weltmeisterin Bettine Vriesekoop auf eine vielschichtige Reise in das Herz der chinesischen Gesellschaft. Ihr Ziel: Die Emanzipation und das sexuelle Selbstverständnis moderner Frauen in China zu erkunden – jenseits von westlichen Vorannahmen. Das Ergebnis ist eine kluge, feinfühlige und streckenweise schockierende Reportage über die weibliche Identität im Spannungsfeld zwischen Konfuzianismus, Kapitalismus und Körperkult.
„Mulans Töchter“ von Bettine Vriesekoop – Wie sich das Frauenbild in China zwischen Tradition, Sexualität und Moderne verändert
Von Mulan zu Qiu Jin – Auf den Spuren starker Frauen in der chinesischen Geschichte
Der Titel verweist bewusst auf die chinesische Volksheldin Hua Mulan, deren Geschichte vielen durch den Disney-Film von 1998 bekannt ist. Mulan steht symbolisch für den Bruch mit traditionellen Geschlechterrollen – eine junge Frau, die sich als Mann ausgibt, um in den Krieg zu ziehen und die Ehre ihrer Familie zu wahren. Doch Vriesekoop blickt tiefer: Neben Mulan stellt sie Qiu Jin in den Mittelpunkt – eine reale historische Figur, die in der Spätphase der Qing-Dynastie als Dichterin, Revolutionärin und Feministin wirkte.
Qiu Jin sprach sich offen gegen das grausame Füßebinden und gegen arrangierte Ehen aus. Sie lernte, wie man Sprengstoff herstellt, wurde wegen ihres Aktivismus verhaftet und wenige Tage später öffentlich hingerichtet. An ihrem Grab beginnt Vriesekoops eigene Spurensuche, die sie mehrfach nach Peking führt – mit dem Ziel, die „Töchter Mulans“ der Gegenwart zu finden.
Wie Tradition das weibliche Selbstbild in China bis heute prägt
Vriesekoop zeigt eindrucksvoll, wie tief verwurzelt alte Ideale noch immer sind. In Gesprächen mit jungen Chinesinnen zwischen 20 und 30 Jahren, die sie zwischen 2012 und 2014 interviewt, wird deutlich: Freiheit ist für viele Frauen in China kein selbstverständlich gelebter Zustand – vor allem nicht im Hinblick auf Partnerschaft, Sexualität und Selbstbestimmung.
Zentrale Bedeutung kommt in „Mulans Töchter“ der Rolle von Religion und Philosophie zu. Die Autorin beleuchtet dabei die Wertevorstellungen aus Daoismus, Buddhismus und Konfuzianismus, und fragt: Wie prägen diese Strömungen das moderne Frauenbild in China heute?
Füßebinden, Schönheits-OPs und gesellschaftlicher Erwartungsdruck
Ein besonders bedrückendes Kapitel widmet sich der jahrhundertealten Praxis des Füßebindens, die in China bis ins 20. Jahrhundert verbreitet war. Knochen wurden gebrochen und die Füße junger Mädchen so abgebunden, dass sie nie länger als 12 Zentimeter wurden. Schönheit bedeutete Leid – und Stolz. Hu Ye, Vriesekoops Übersetzerin und Assistentin, berichtet eindringlich von ihrer Großmutter, die diesen Eingriff selbst durchleben musste.
Heute ist der Schönheitsdruck nicht verschwunden – er hat sich lediglich transformiert. Plastische Chirurgie boomt. Junge Frauen lassen sich operieren, um beruflich erfolgreicher zu sein oder – so berichtet die Chirurgin Danielle Liu – um „einen wohlhabenden Mann zu angeln“. Schönheit ist Kapital. Und in vielen Branchen, so der Befund, ein stillschweigendes Einstellungskriterium.
„Essensrestchen“ und „kahle Zweige“ – Stigmatisierung durch Sprache
Besonders einprägsam sind Vriesekoops Interviews mit sogenannten „Shengnü“ – Frauen über 27, die noch unverheiratet sind. Wörtlich übersetzt bedeutet das: „Essensreste“. Das männliche Pendant ist nicht weniger entwürdigend: „kahler Zweig“, also ein Mann, der den Familienbaum nicht weiterführt.
Vriesekoop begegnet vielen Frauen, die sich diesem gesellschaftlichen Druck entziehen wollen – darunter Jiujiu, die Karriere macht, statt zu heiraten, oder Xu Tu, die in einem E-Commerce-Unternehmen für Sexspielzeuge arbeitet. Auch Lanlan, eine ehemalige Prostituierte, die heute eine NGO für Sexarbeiterinnen leitet, kommt zu Wort. Die Autorin gibt ihnen allen Raum, ihre Geschichten ohne moralischen Filter zu erzählen.
Liebe, Sexualität und Partnerschaft – Tabus und neue Offenheit
In Parks von Peking dokumentiert Vriesekoop kuriose Begegnungen: Ältere Menschen mit Fotos ihrer Kinder um den Hals, auf der Suche nach Schwiegertöchtern oder -söhnen – eine Art inoffizieller Heiratsmarkt. Diese Szenen stehen exemplarisch für die noch immer massive Einmischung der Familie in Fragen der Partnerschaft.
Gleichzeitig erlebt die Autorin eine junge Generation, die sich langsam von diesen Zwängen befreit – durch Bildung, digitale Aufklärung, wirtschaftliche Unabhängigkeit. Aber der Weg ist lang und steinig, wie die Gespräche in „Mulans Töchter“ zeigen.
Bettine Vriesekoops Stil: Beobachtend, respektvoll und klug erzählend
Was „Mulans Töchter“ so stark macht, ist nicht nur das Thema, sondern die artikulierte Zurückhaltung der Autorin. Vriesekoop urteilt nicht. Sie interpretiert nicht übermäßig. Sie beobachtet – mit feinem Gespür für Zwischentöne, mit Empathie und einem tiefen Respekt für ihre Gesprächspartnerinnen.
So entsteht ein essaysistisch erzählter Reisebericht, der sowohl historisch informiert als auch kulturell sensibilisiert. Es ist ein Buch, das Vorurteile aufweicht und vermeintlich fremde Realitäten greifbar macht – ohne in Klischees oder Vereinfachungen zu verfallen.
Eine kraftvolle Reportage über das Frauenbild im modernen China
„Mulans Töchter“ ist mehr als ein Sachbuch – es ist eine interkulturelle Brücke. Mit fundierter Recherche, eindringlichen Interviews und literarischer Feinfühligkeit öffnet Bettine Vriesekoop ein Fenster in eine Gesellschaft im Wandel. Sie zeigt, wie stark Geschichte, Religion, Politik und Popkultur das Selbstverständnis von Frauen in China bis heute beeinflussen.
Für Leser:innen, die sich für Feminismus, interkulturelle Reportagen, asiatische Gesellschaften oder Genderdebatten interessieren, ist dieses Buch ein Muss – differenziert, mitreißend und horizonterweiternd.
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