Zwischen Megabassins und Neandertalern Rachel Kushner – See der Schöpfung

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Erschienen am 15.04.2025 bei Rowohlt, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell

Rachel Kushner – See der Schöpfung Rachel Kushner – See der Schöpfung Rowohlt

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See der Schöpfung: «Ein Meisterwerk! Ein Ideenroman und zugleich ein perfekter Thriller. Das reine Lesevergnügen.» Das Literarische Quartett

Eine ehemalige CIA-Spionin, die im südwestfranzösischen Nirgendwo in eine Kommune ökologischer Fundamentalisten eintaucht – das klingt zunächst nach dem Plot eines gut geölten Politthrillers. Doch wer Rachel Kushner kennt, weiß, dass sie ihre Romane selten in Genregrenzen einsperrt. See der Schöpfung ist vieles: literarisches Gedankenexperiment, Ideologiekritik, anthropologische Groteske und ein rasanter Bericht aus den Rändern der Zivilisation. Dass sich daraus ein hochpolitisches, kluges und zugleich unterhaltsames Buch ergibt, liegt nicht zuletzt an der Art, wie Kushner mit Material, Sprache und Erwartung spielt.

Sadie Smith heißt die Erzählerin dieses Romans, 34 Jahre alt, attraktiv, abgebrüht, in den USA ausgebildet im Verbergen und Beobachten. Früher für die CIA unterwegs, nun in diskreten Diensten eines anonym bleibenden Auftraggebers, soll sie eine Gruppe von Umweltaktivisten infiltrieren, die im Verdacht stehen, Anschläge auf Industrieanlagen zu verüben. Ihr Einsatzort: ein entlegener Winkel in der französischen Guyenne, wo eine Kommune mit dem etwas folkloristisch anmutenden Namen „Moulinards“ gegen den Bau sogenannter Megabassins kämpft – riesige künstliche Wasserspeicher, die in Zeiten zunehmender Dürre als Zukunftsmodell verkauft werden, aber genau das Gegenteil sind.

Sadie tritt ihre Mission mit Arroganz an. Die Welt, die sie betritt, ist nicht die ihre – weder geografisch noch ideologisch. Verschlafene Dörfer, bio-dynamische Felder, Kompostklos, gemeinschaftliche Mahlzeiten – all das erscheint ihr wie eine Parodie auf das echte Leben. Was folgt, ist keine romantische Wandlung, kein Klischee von Bekehrung. Und doch beginnt die Fassade zu bröckeln, als sie Bruno Lacombe begegnet, dem eigensinnigen Kopf der Gruppe.

Der Prophet aus der Höhle

Bruno lebt in einer Neandertalerhöhle. Und das ist weder Metapher noch Pose, sondern Programm. Er ist ein Aussteiger alten Stils, ein Überbleibsel der 68er, aber ohne Nostalgie, dafür mit einer Vision, die ins Vorgeschichtliche zielt. Bruno lehnt die Zivilisation ab, das Geldsystem, die Technik, die urbane Kultur. Stattdessen liest er Studien über Genetik, entwickelt Theorien über die evolutionäre Überlegenheit der Neandertaler, schreibt E-Mails über Zahngesundheit und Tabakkonsum in der Altsteinzeit und verbindet das Ganze mit einer radikalen Systemkritik, die sich so feingliedrig wie unberechenbar durch den Roman zieht.

Kushner inszeniert diese Figur mit einem feinen Gespür für Ambivalenz. Bruno ist kein guruhaftes Lichtwesen. Er ist ein misstrauischer, manchmal überdrehter Mann mit Obsessionen, ein Mensch, der viel denkt und wenig vertraut. Und gerade deshalb ist er glaubwürdig. Sadie, die seinen Mails auf der Spur ist, wird nicht verführt im klassischen Sinn – sie wird irritiert. Und aus dieser Irritation wächst ein anderes Sehen: auf die Welt, auf ihren Auftrag, auf sich selbst.

Wasserkrieg und Ideologie

Der Roman ist tief in aktuellen Konflikten verwurzelt. Die Megabassins, um die sich der Streit dreht, sind keine Fiktion. In Frankreich formieren sich seit Jahren Proteste gegen ihre Errichtung – nicht nur wegen ökologischer Bedenken, sondern weil sie zum Symbol für eine neue Form des Ressourcenkapitalismus geworden sind: Wasser als Ware, privatisiert, umgeleitet, konzentriert in den Händen weniger. Die Moulinards, Kushners Kommune, ist keine ideale Gegenwelt, sondern eine widerständige Versuchsanordnung. Sie lehnt nicht nur die Technik ab, sondern auch den Glauben an Reformen, an Dialog, an Kompromisse.

Sadie ist der perfekte Kontrast dazu: geschult in Kontrolle, trainiert auf Effizienz, geübt in strategischer Kälte. Und doch ist sie keine reine Funktionsträgerin. Sie beobachtet mit Witz, analysiert mit Intelligenz, und ihr Sarkasmus ist mehr als nur ein Schutzschild. Im Laufe der Geschichte verliert sie nicht ihre Loyalität, sondern ihren Glauben an die eigene Rolle. Sie soll Beweise liefern, Vorbereitungen auf Sabotage dokumentieren – und findet stattdessen eine Welt, die sich jenseits ihrer Kategorien bewegt.

Die Neandertaler als Spiegel

Besonders auffällig – und literarisch am reizvollsten – ist der essayistische Strang des Romans, in dem Bruno die Neandertaler als eine Art ideelles Gegenbild zum Homo sapiens ins Spiel bringt. Seine E-Mails, von Sadie mit wachsendem Erstaunen gelesen, sind eine Mischung aus wissenschaftlicher Spekulation, kulturkritischem Manifest und surrealer Anthropologie. Die Neandertaler rauchten, rechneten, lebten abgeschieden, waren rothaarig und sozial introvertiert. Ihre Schädelkapazität überstieg die unsere, ihre Kiefer waren überdimensioniert – ein evolutionäres Missverständnis, ein Mitleid erregendes Detail, das Bruno mit der Ökonomie von Maschinen vergleicht: versunkene Kosten.

Kushner montiert diese Gedankengänge in den Text wie ein Naturkundemuseum im Kopf der Erzählerin. Die Joan-Crawford-Gesichter, die Rockerbilder, die martialischen Mixed-Martial-Arts-Vergleiche – all das ist kein Gag, sondern ein Versuch, den Diskurs zu kippen, ihn erfahrbar zu machen. Die Frage, warum der Homo sapiens überlebt hat und der Neandertaler nicht, wird zur Parabel auf das Scheitern eines weicheren, langsameren, weniger destruktiven Lebensentwurfs.

Form und Klang

Rachel Kushner ist eine Autorin, die nie laut sein muss, um zu wirken. Ihre Sprache ist knapp, lakonisch, durchsetzt von gedanklicher Schärfe und ironischer Brechung. See der Schöpfung funktioniert formal wie ein Spionageroman – aber das Herzstück ist ein philosophischer Text, der mit den Mitteln der Fiktion die Gegenwart ausleuchtet. Die Übersetzung von Bettina Abarbanell trägt diese Spannung mit großem Gespür – sie erhält die intellektuelle Kühle und trifft zugleich die verborgene Wärme unter Sadies Textoberfläche.

Die Handlung bleibt dabei in Bewegung, nie vorhersehbar, immer getrieben von einer Unruhe, die nicht nur narrativ, sondern auch gedanklich ist. Sabotageakte, Überwachung, Lagerfeuergespräche – alles verdichtet sich zu einem Panorama aus innerem und äußerem Konflikt. Und wenn Sadie am Ende nicht weiß, auf wessen Seite sie steht, dann liegt das daran, dass Kushner keine einfachen Wahrheiten verteilt.


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