Der Philosoph Peter Sloterdijk vermisst Gegenstimmen und Differenzierungen in den Debatten um den Ukraine-Krieg. Bei der deutschen Berichterstattung fühle er sich "sehr unwohl", sagte Sloterdijk gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Der Mutmaßung des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk, viele flüchtende Ukrainer fühlten sich in Deutschland nicht willkommen, widerspricht der Philosoph vehement.
Vor etwas mehr als zwei Monaten erschien Peter Sloterdijks aktuelles Buch "Wer noch kein Grau gedacht hat". Eine "Farbenlehre", in der es unter anderem um die Produktivität von Zwiespältigkeit und politisch-moralischer Zweideutigkeit geht; ein Werk, das sich auf die Suche nach einem Etwas begibt, welches wir - der Sprache des Alltags verfallen - mit "eingespielter Selbstgenügsamkeit" zu übersehen gewohnt sind. Sloterdijks eher sanfter und bedachter Angriff auf die Alltagssprache, die, wie er weiß, übersehen und ausschließen muss, erinnert ein wenig an die etwas harscheren Angriffe Peter Handkes auf die "Journalistenprosa". Was beide Autoren in ihren Werken - auf je unterschiedliche Weise - ansprechen, wird uns tagtäglich vor Augen geführt: Die ansteigende Gefahr einer sich zuspitzenden und immer stärker auf den Affekt abzielenden Berichterstattung. Eine Sprache, die um die westliche moralische Gefühligkeit und Sensibilität weiß, und diese daher bewusst anzapfen kann. Nicht zuletzt im Zuge des Ukraine-Kriegs werden uns diesbezüglich allerhand Beispiele geliefert.
Ukrainer fühlen sich in Deutschland nicht willkommen
So behauptete der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk vor wenigen Tagen in "Bild"-TV, flüchtende Ukrainer würden sich in Deutschland nicht willkommen fühlen. "Das ist, glaube ich, ganz unrichtig" widerspricht Peter Sloterdijk. "Wir selber haben auch mehrfach Flüchtlinge aufgenommen, und wir kennen Leute, die es ebenfalls getan haben. Wir wissen aus erster Hand, dass Gefühle des Nichtwillkommenseins eher die Ausnahme als die Regel sind. Im Gegenteil, es existiert nach wie vor eine ganz große Welle der Freundlichkeit und der Hilfsbereitschaft."
Dass Melnyk in öffentlichen Auftritten mit solcherlei Behauptungen und Annahmen auffährt, liege, so Sloterdijk, in der Natur der Dinge. Es sei ganz klar, dass die ukrainische Seite versuche, "den Westen in den Krieg hineinzureden". Dies gelte sowohl für Präsident Wolodymyr Selenskyj als auch für Melnyk. "Gerade den Deutschen werfen sie mehr als allen anderen Seiten vor, noch nicht Kriegspartei geworden zu sein, weil sie in Deutschland das schlechte Gewissen und die Neigung zum Einknicken verspüren." Die deutsche Berichterstattung arbeite diesen Absichten zu. "Wie enttäuschte Theaterbesucher, die gern mehr Spektakel gesehen hätten, werfen manche Journalisten dem Kanzler Scholz seine vorsichtige Haltung vor."
"Sehr unwohl"
Die Tatsache, dass es innerhalb der Debatten um den Ukraine-Krieg kaum mehr Gegenstimmen gebe, macht Sloterdijk große Sorgen. Ihm sei bei der gesamten Berichterstattung "sehr unwohl", sagt der Philosoph. "Man denke daran, in wie unfairer Weise man versucht hat, die Initiatoren des offenen Briefes von Alice Schwarzer zu diskreditieren." Die Unterzeichner dieses ersten Offenen Briefes hatten sich darin an Olaf Scholz gerichtet und appelliert, weiterhin keine schweren Waffen an die Ukraine zu liefern.
Gegenüber der dpa bezog auch Sloterdijk Stellung zum Thema Waffenlieferung: "Die Lieferung schwerer Waffen wäre doch mehr oder weniger gleichbedeutend mit dem offenen Eintritt in die Position der Kriegspartei. Wenn westliche Politiker davor bisher zurückgeschreckt sind, hat das gute Gründe. Deutschland steht hier keineswegs allein, auch Frankreich und die USA waren sich bisher darin einig, bei den schweren Waffen Zurückhaltung zu üben."
Putin als Wiederhersteller einer "russischen Welt"
Über den russischen Präsidenten Wladimir Putin sagte Sloterdijk, es habe selten einen Politiker gegeben, "bei dem die Lüge einen so großen Anteil seiner sprachlichen Äußerungen ausmacht". Der russische Präsident sehe sich als Wiederherstellen einer "russischen Welt", die jedoch weitgehend fiktiver Natur sei.
"Er fabuliert sich eine Historie zusammen, ganz in einem Modus, wie es halbgebildete Personen, die zufällig an die Macht gekommen sind, zu tun pflegen. Seine Reflexionen stehen auf dem Niveau der rabulistischen Tischgespräche Hitlers – die kann man strukturell durchaus vergleichen."
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