Victor Jestin - "Hitze" Coming of Age: Erst der Tod bewegt zum Tanz

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Victor Jestins Debütroman "Hitze" beginnt mit rasant, und entfaltet im Laufe des Lesens eine zunehmend morbidere Grundstimmung. Foto: Kein & Aber

Wie geht das Leben? Wo und wann fängt man damit an? Was gilt es zu zerstören? In Victor Jestins Debütroman "Hitze" stellen sich diese Fragen nicht zwischen wildem Partyleben und erstem Verliebt-Sein. Hier dient der Tod eines 17-Jährigen als Katalysator.

Zunächst: Der Titel dieses Debüts ist glänzend gewählt. Eine "Coming of Age" Geschichte eines jungen Autors (Jahrgang 1994) die knapp mit "Hitze" überschrieben ist? Schnell denkt man da ans Klima, an einen weiteren dystopischen Roman, an globale Existenzängste, geschildert aus der Perspektive einer jungen Generation, die gute Gründe hat sich zu ängstigen. Doch schon auf der ersten Seite wirft "Hitze" all diese voreiligen Ersteindrücke über den Haufen, und überrascht mit einem zwar nicht außergewöhnlichen, aber doch durchaus unerwarteten Plot.

Worum geht es geht

Der Ich-Erzähler Lénoard verbringt einen ihn lähmenden, viel zu langen Sommerurlaub auf einem Campingplatz an der französischen Antlantikküste. Verreist ist er gemeinsam mit seinen Eltern, was für einen Jungen in seinem Alter bedeutet, dass er im Grunde allein verreist ist. Allein an diesem riesigen, von unterschiedlichsten Gästen unterschiedlichster Generationen besuchten Ort. Rentner die entspannen wollen, Kinder die mit unstillbarer Neugierde im Sand wühlen, Jugendliche, die auf diversen Strandpartys ihren ersten Kuss erhoffen, den ersten Sex ersehnen und mit dem ersten Verliebt-Sein konfrontiert werden. Lénoard steht mehr oder weniger abseits dieser aufregenden zwischenmenschlichen Abenteuer.

Verwundert ist man darüber nicht all zu sehr. Denn wie in vielen "Comnig of Age" Geschichten entspricht der in diesem Roman gezeigte Ich-Erzähler nicht dem gemeingültigen Teenager-Bild seiner Generation. Klassische Musik liegt ihm näher als die von vielen Gleichaltrigen bevorzugte Pop-Musik. Er schämt sich seines Aussehens, entspricht nicht den angestrebten Idealvorstellungen des Körperkultes, erscheint eher introvertiert, nachdenklich und gleichgültig. Die Partys, zu denen er sich bisher überreden konnte, hat er allesamt schnell wieder verlassen. Letztlich war es die Mühe dann doch nicht wert. Stattdessen streift er allein an den Stränden entlang, masturbiert Abends im Zelt, und schläft anschließend ein. Ein langer heißer Sommer an einem bunt bevölkerten und doch trostlosen Ort.

Mit Lénoard wird uns also eine Figur präsentiert, die uns aufgrund ihrer Abseitsstellung dabei hilft, ihre Generation besser verstehen zu können. Denn der Protagonist selbst versteht ja die angesagten Codes, weiß was sich schickt und was er zu tun hätte. Wir teilen also die Sicht mit einem- vielleicht freiwillig, vielleicht unfreiwillig - Ausgeschiedener.

Der Tot als Auftakt

Gleich zu Beginn der Geschichte wird deutlich, dass es sich dabei um eine äußerst verdunkelte Sicht handelt. Denn der Roman beginnt mit dem Tod des 17-Jährigen Oscars, der, von Seilen erdrosselt, von einer Kinderschaukel rutscht und Lénoard quasi leblos vor die Füße fällt. Da der Ich-Erzähler die Szenerie beobachtete aber nicht eingriff, versteht er sich fortan nicht als Zeuge eines Todes, sondern als Mörder. Gewissensbisse plagen ihn, und um überhaupt etwas zu tun, schleift er die Leiche an den Strand und vergräbt sie in den Dünen.

Oscars Leiche begleitet den Jugendlichen Ich-Erzähler fortan die gesamte Geschichte hindurch, und überzieht diese mit einer morbiden Grundstimmung. Da ist die Angst, dass Oscars Leiche jederzeit wieder auftauchen, dass sie etwa von Kindern ausgebuddelt, von Jugendlichen entdeckt, vom Meer an den Strand gespült werden könnte. Begleitet und getrieben von dieser Angst lebt Lénoard nun, seltsamerweise, intensiver als zuvor. Als wären die nächsten Stunden die letzten vor einem endgültigen und vernichtenden Urteil. Die Leiche treibt ihn an, wirft ihn in die Menschenmenge, in die Partys. Lénoard flirtet mit Mädchen, schlägt sich, hat sogar Sex. Es scheint so, als hätte es diesen Toten gebraucht, um kurzzeitig in der selbstverständlichen Alltagsgestaltung anderen Jugendlichen aufzugehen.

Mit diesem Zusammentreffen von fiebernder Außen- und kalter Innenwelt ist dann der morbide Clou erreicht. "Hitze" bedeutet hier das "etwas Wärmere". "Hitze" benötigt Lénoard dort, wo es Anderen bereits zu warm wäre.

Fazit

Man kann Victor Jestins Debütroman als die Buch gewordene Angst davor lesen, dass es zunehmend stärkere Eindrücke braucht, um in einer Sensationübersättigten Welt überhaupt noch emotional bewegt werden zu können. Diese Coming of Age Geschichte, die von Egozentrik, Verirrung und gewissermaßen auch Perversion erzählt, besticht in der Reflexion darüber, dass der Tod im Grunde etwas geworden ist, das uns vollkommen kalt lässt. Dass er nicht nur zum Leben dazugehört, sondern Leben befeuern kann. In der "Hitze" der kommenden Sommer tanzen wir auf Grundlage vieler Leichen, reiben uns schwitzend aneinander, gespannt auf die nächsten Weltuntergangsgesänge, die zu ignorieren uns nicht zufällig so leicht fällt.


Victor Jestin: "Hitze"; Kein & Aber; 2020; 160 Seiten; 20,– €

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