Nachdem sich die Bestseller-Autorin Annie Ernaux in ihrer preisgekrönten Erzählung "Der Platz" mit dem Leben ihres Vaters beschäftigt hatte, setzt sie sich in "Eine Frau" nun mit der Mutter auseinander. Ein tiefgreifendes, autobiografisches Porträt, welches Ernaux etwa zwei Wochen nach dem Tod ihrer Mutter zu schreiben begann.
Abschied von einem geliebten Klassenfeind
Es ist beinahe so, sagt Annie Ernaux, als hätte ihr das Schreiben geholfen, ihre Mutter zur Welt zu bringen. "Das ist eine Umkehrung, eine Inversion." Kurz nach der Todesnachricht, die ihr ein Krankenpfleger auf unempathische Weise übermittelte, war die Autorin am Boden zerstört. Um sich wieder aufzurichten, begann sie zu schreiben, und das Leben dieser geliebten Frau, ihrer Mutter, nachzuerzählen.
Dieses Erzählen wirkt zunächst sachlich und kühl. Aus einer wohl notwendigen Distanz heraus, beginnt die Autorin davon zu erzählen, wie ihre Mutter in die Leichenhalle gebracht, später im familiären Kreis bestattet wird. Im Augenblick der Beschreibung bemerkt Ernaux plötzlich, dass das literarische Berichten von der Bestattung einer Geburt gleich kommt. Die verstorbene, stets literaturhungrige und wissbegierige Mutter, erhebt sich nun als - weitesgehend - literarische Figur.
Die Nähe der Klassenfeinde
Schnell wird während des lesens die Wärme und Nähe deutlich, von der diese Mutter - Tochter Beziehung geprägt ist. Ein wichtiger Bestansteil ist hierbei die Literatur. Ihre Mutter, so erzählt Ernaux, behandelt Bücher wie Reliquie, wie "heilige Gegenstände". Die Faszination, der Hunger nach Bildung, überträgt sich schnell auf die Tochter. "Und was ich dann realisiert habe: Sie will, dass ich Bücher schreibe.", schreibt Ernaux.
Die Tochter verlässt ihren Herkunftsort, studiert in Rouen und Bordeaux, wird Lehrerin, zieht mit ihren Mann fort und bricht mit dem elterlichen Milieu. Dieser Bruch wird ein schriftstellerisches Lebensthema für Annie Ernaux werden, immer wieder wird sie sich mit der Geschichte des Klassenflüchtlings auseinandersetzen, und immer wieder wird ihre Mutter dabei eine zentrale Rolle spielen, auch wenn sie keine Erwähnung in den entsprechenden Büchern findet. In "Eine Frau" werden Sitationen beschrieben, in denen sich Mutter und Tochter plötzlich als "Klassenfeinde" gegenüberstehen.
Abschied
Im Alter von 73 Jahren wird die Mutter von einem Auto angefahren und kommt ins Krankenhaus. Ernaux beschreibt, wie schmerzhaft es ist, eine Verhaltensänderung bei einem geliebten Menschen mitzuerleben.
"Ich habe den Eindruck, dass sie verrückt wird, ihre ganze Persönlichkeit ist vollkommen verändert. Sie wird zu einer anderen Frau, und das ist ein großer Schmerz. Ich trage ihn in mir, in all den Jahren."
Die Mutter möchte zu den unmöglichsten Zeiten einkaufen gehen, wartet auf längst abgefahrende Züge, entfernt sich zunehmend von der Realität. Eindrucksvoll, berührend und wohl so persönlich wie selten zuvor, lässt Ernaux ihre Leser*innen an jenen Veränderungen teilhaben. Mit dem Tod der Mutter kappt die letzte Verbindung zum Herkunftsmilieu, Ernaux Lebensthema treibt nun ohne Verbindung dahin. "Es sind ihre Gesten, ihre Worte, es ist ihr Körper, die mich mit der Welt verbanden, aus der ich stamme."
Um diese Verbindung geht es im Kern des Buches. Um die denkbar engste Verbindung, die man sich zu einem Klassenfeind vorstellen kann, darum, jedes noch erkennbare Detail dieser Verbindung festzuhalten, bevor die Erinnerung an die Herkunft weitertreibt und letzlich vergeht.
Annie Ernaux - "Eine Frau" (Übersetzt von Sonja Finck), Suhrkamp Verlag, 2019, 88 Seiten, 18 Euro
Topnews
Ein Geburtstagskind im November: Astrid Lindgren
Geburtstagskind im Oktober: Benno Pludra zum 100. Geburtstag
Das Geburtstagskind im September: Roald Dahl – Der Kinderschreck mit Engelszunge
Ein Geburtstagskind im August: Johann Wolfgang von Goethe
Hans Fallada – Chronist der kleinen Leute und der inneren Kämpfe
Ein Geburtstagskind im Juni: Bertha von Suttner – Die Unbequeme mit der Feder
Ein Geburtstagskind im Mai: Johannes R. Becher
Ein Geburtstagskind im April: Stefan Heym
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Die Sprache entspringt der Todesnähe
Flammende Winterpilze und eine Nonne mit wallendem Bart
Gestatten: Mein Name ist Tomti, Baumgeist Tomti!
Vier Schläge an das Tor des Unheils
Ein Rachefeldzug, quer durch die Medien
"Über Liebe und Magie" von John Burnside: Eine große Hoffnung
Peinliche Eltern und Helikopter-Teenies
Die Wiederentdeckung der Langsamkeit
Einer, der das Verschwinden begehrt
Am Lebensweg entlang geschrieben
Schmerz, Tod, Wut: Ein Virus weckt subversive Kräfte
Hochkultur im Taxi
Ein Autor der Neuen Rechten?
Das bringt der Winter bei Rowohlt
Das zerbrochene Inselreich
Aktuelles
Beim Puppendoktor – Ein Bilderbuch über das Kind und sein Spiel
Denis Scheck über Fitzek, Gewalt und die Suche nach Literatur im Maschinenraum der Bestseller
Die Frauen von Ballymore von Lucinda Riley- Irland, eine verbotene Liebe und ein Geheimnis, das nachhallt
Katrin Pointner: Willst du Liebe
Geschenktipp zu Weihnachten: Otfried Preußlers Die kleine Hexe
Zwischen Fenster und Flug – Nikola Huppertz’ Gebrannte Mandeln für Grisou
Die stille Heldin von Hera Lind – Eine Mutter hält die Welt zusammen
Winnetou: Die besten Karl-May-Bände
Kiss Me Now von Stella Tack – Prinzessin, Personenschutz, Gefühlsernst
Kiss Me Twice von Stella Tack – Royal Romance mit Sicherheitsprotokoll
Literatur zum Hören: Was die BookBeat-Charts 2025 über Lesegewohnheiten verraten
László Krasznahorkais neuer Roman „Zsömle ist weg“
Zwischen Vers und Verwandlung – Fitzebutze als poetische Kindheitsform
Kiss Me Once von Stella Tack – Campus, Chaos, Bodyguard: eine Liebesgeschichte mit Sicherheitslücke
Michael Danzinger: (unbenannt)
Rezensionen
Die ewigen Toten von Simon Beckett – London, Staub, Stille: Ein Krankenhaus als Leichenschrein
Totenfang von Simon Beckett – Gezeiten, Schlick, Schuld: Wenn das Meer Geheimnisse wieder ausspuckt
Verwesung von Simon Beckett – Dartmoor, ein alter Fall und die Schuld, die nicht verwest
Leichenblässe von Simon Beckett – Wenn die Toten reden und die Lebenden endlich zuhören
Kalte Asche von Simon Beckett – Eine Insel, ein Sturm, ein Körper, der zu schnell zu Staub wurde
Die Chemie des Todes von Simon Beckett– Wenn Stille lauter ist als ein Schrei
Knochenkälte von Simon Beckett – Winter, Stille, ein Skelett in den Wurzeln
Biss zum Ende der Nacht von Stephenie Meyer – Hochzeit, Blut, Gesetz: Der Schlussakkord mit Risiken und Nebenwirkungen
Das gute Übel. Samanta Schweblins Erzählband als Zustand der Schwebe
Biss zum Abendrot von Stephenie Meyer – Heiratsantrag, Vampirarmee, Gewitter über Forks