Wenn Denis Scheck einlädt, um über Literatur zu sprechen, weiß man: Es wird polemisch, pointiert, aber nie prätentiös. Auch diese Ausgabe von Druckfrisch bleibt dem Prinzip treu – und liefert einen angenehm unaufgeregten, aber messerscharfen Querschnitt durch die aktuellen literarischen Zumutungen, Absurditäten und Aha-Momente.
Der vielleicht klügste Moment der Sendung liegt – wie so oft – nicht in der Analyse eines Buches, sondern in der Art, wie Scheck sich selbst positioniert: als jemand, der die Literatur ernst nimmt, aber nicht die Autorpose. Wenn er bei Michael Sommer und Stefan von der Lahr von einem „krass grausamen Rundgang durch ein Jahrtausend Geschichte“ spricht, dann klingt das nicht ironisch, sondern respektvoll. Und wenn er sich zugleich fragt, „Darf man das? So flapsig Geschichte erzählen?“, dann ist das eine typisch deutsche Skrupel-Reflexion – eine, die Scheck aber sofort unterläuft: Ja, man darf. Mehr noch: Man muss.
Die Antike
Die Besprechung von Die verdammt blutige Geschichte der Antike ohne den ganzen langweiligen Kram (Michael Sommer & Stefan von der Lahr) gerät zum kleinen Meisterstück der literaturkritischen Unterhaltung. Scheck nennt das Werk eine „Formationstanz des Todes“-Choreografie, bewundert dessen erzählerische Präzision und lobt den Spagat zwischen Faktentreue und Erzählfreude. Die Begeisterung ist spürbar – und selten wirkte das Genre „populäres Sachbuch“ weniger populistisch.
Dass das Werk „zur rechten Zeit“ komme, wie Scheck resümiert, ist mehr als eine Floskel: In einer Gegenwart, in der Geschichte zunehmend moralisierend verhandelt wird, ist dieses Buch ein sarkastisch-kluger Kontrapunkt. Und Druckfrisch inszeniert genau das – nicht als Skandal, sondern als legitime Form moderner Bildung.
Maddalena Fingerle
Der wohl ruhigste, aber nicht weniger eindrucksvolle Teil der Sendung gehört Maddalena Fingerle – einer italienischen Autorin aus dem Allgäu, wie Scheck betont. Sie spricht über ihren zweiten Roman Mit deinen Augen, in dem Gaia, eine junge Frau in München, sich nach der Trennung von ihrer Freundin buchstäblich in eine andere verwandeln will: Sie schneidet ihre Haare, trägt eine Perücke, gibt Schmuckstücke ab – alles, um zu werden wie Veronica, die Frau, die sie verlassen hat.
Besonders eindrucksvoll: Gaia schämt sich für ihre Herkunft, dafür, dass sie nicht so frei spricht wie Veronica. Sie will nicht mehr sie selbst sein – und wird dabei ungewollt mehr sie selbst als je zuvor. Fingerle spricht das mit einer ruhigen Klarheit aus, die man selten in Interviews hört. Scheck lässt sie erzählen, fragt präzise nach, drängt nicht – und heraus kommt ein wunderbar kluges Gespräch über Identität, Sprache, Scham und Sichtbarkeit. Ein literarisches Porträt in Echtzeit.
Zwischen Verkaufszahlen und Verdruss – die Bestsellerliste
Wie immer endet Druckfrisch mit dem launigsten, aber auch schärfsten Segment: Denis Schecks schonungsloser Blick auf die Spiegel-Bestsellerliste. Eine Mischung aus literarischer Inventur, pointierter Gnadenlosigkeit und gelegentlichen Überraschungen – diesmal nicht anders.
Lob gibt es – und zwar nicht zu knapp – für Titel, die sich klammheimlich in den Rankings behauptet haben:
- Platz 10: Das Narrenschiff von Christoph Hein – ein „figurenreicher Gesellschaftsroman“, so Scheck, „über die schrecklich seltene Ressource Rückgrat“
- Platz 9: Andrea Sawatzki – „Biarritz“– Lob für klugen Mutter/Tochter Roman
-
Platz 8: Für Polina von Takis Würger– ein „Evergreen“, emotional stark, ohne Kitsch
- Platz 7: Kein Geld, kein Glück, kein Sprit von Heinz Strunk – solide, stilistisch eigenständig
- Platz 5: Das Geschenk von Gaea Schoeters – eine messerscharfe Satire auf den Politikbetrieb
- Platz 4: Die Auferstehung von Andreas Eschbach – die Rückkehr der Drei ???, mit nostalgischer Wucht
Die Abrechnung folgt sogleich:
- Platz 6: Himmel ohne Ende von Julia Engelmann – Scheck: „Hirnlose Geschichte“
- Platz 3: Wir sehen uns wieder am Meer von Trude Teige – kurzer Prozess: „Kitsch“
- Platz 2: Mein Name ist Emilia del Valle von Isabel Allende (Suhrkamp) – Scheck: „Versackt in Femi-Kitsch schlimmster Sorte“
- Platz 1: Die Hummerfrauen von Beatrix Gerstberger– „Wie von KI geschrieben“, eine „Panscherei“ aus Trivialität und Kalkül
Es ist der Moment, in dem Druckfrisch wieder einmal beweist, warum es nicht nur unterhält, sondern notwendig ist: Weil hier jemand bereit ist, das literarische Feuilleton vom weichgespülten Konsens zu befreien.
Percival Everett – philosophischer Nonsens mit Methode
Percival Everetts Dr. No ist der Höhepunkt der Sendung: ein Buch über den Mathematiker Wala Kitu – der Name bedeutet auf Tagalog und Swahili schlicht „Nichts Nichts“. Im Auftrag eines milliardenschweren Schurken soll er eine geheime Box aus Fort Knox öffnen, deren Inhalt das mächtigste Nichts der Welt sein soll. Eine Mischung aus Spionage, Philosophie, Satire und Sprachspiel, bei der man nicht weiß, ob man lachen, staunen oder fliehen soll.
Scheck macht dabei gar keinen Hehl daraus, dass Everett für ihn ein absoluter Lieblingsautor ist – bewundert, gefeiert, vielleicht sogar ein wenig beneidet für seine literarische Nonchalance. Im sehenswerten Interview vermischt Scheck Buch und Zeitgeist, lässt politische Lesarten anklingen, ohne sie dem Text aufzuzwingen, und zeigt, dass Dr. No mehr ist als ein postmodernes Bonmot. Es ist eine präzise, schillernde Antwort auf eine Welt, in der das Nichts längst messbar gemacht wurde – in Kapital, Klicks und Chaos.
Scheck präsentiert das mit sichtlichem Vergnügen, würdigt Everetts Kühnheit und zeigt auf, dass Dr. No keine bloße Parodie, sondern ein meta-literarischer Zugriff auf Macht, Sprache und Identität ist – und dabei unterhaltsamer als so mancher ernste Versuch, das Nichts in Worte zu fassen.
Datum: 01.09.2025, ARD alpha, 18:15–18:45 Uhr und 24. August 2025 Das Erste