Tanja Maljartschuk - Blauwal der Erinnerung Bevor sie verdaut sind

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Voriges Jahr gewann sie mit ihrem Text "Frösche im Meer" den Ingeborg-Bachmann-Preis. Nun erscheint der erster Roman der ukrainischen Autorin Tanja Maljartschuk: "Blauwal der Erinnerung". Erzählt wird hier die Geschichte eines ukrainischen Philosophen und Nationalhelden, den die Zeit verschlungen hat. Ein Rehabilitationsversuch.

Der Roman "Blauwal der Erinnerung"von Tanja Maljartschuk versucht sich einem nationalen Vergessen zu widersetzen. Foto: Kiepenheuer Witsch

"Der gigantische Blauwahl des Vergessens", das ist die Zeit, gegen die Tanja Maljartschuk in ihrem Roman anschreiben möchte. Wie jenes riesige, durch die Weiten des Ozeans treibende Säugetier, öffnen die Zeitabläufe ihr Maul, schwimmen weiter und verschlingen dabei all die ihnen entgegentreibenden Momente. Im Inneren der Zeit droht das Vergessen-Werden. Durch die drei Kammern des Walmagens hindurch, werden Momente, Episoden, Geschichten verdaut. Um diese Prozesse aufzuhalten - wenn auch nur partiell, um eine einzige Person vor dem Vergessen-Werden zu retten - schreibt die bereits seit sechs Jahren in Wien lebende Autorin.

Dieses Schreiben versteht Tanja Maljartschuk selbst als Privileg. "Das Erinnern ist mein Luxus", heißt es auch bei der Ich-Erzählerin im Roman, deren Nähe zur Autorin kaum zu übersehen ist. Der Luxus des Errinnerns wiederum, wird mit großen Ängsten erkauft: "Es ist wie der Sturz in einen bodenlosen senkrechten Schacht, wo nichts ist, an dem ich mich festhalten kann, meine Nägel schrammen vergeblich über die makellos glatte Oberfläche."

Ein Nationalheld der Vergessenheit

Jene, dem bodenlosen Fallen ausgelieferte, Ich-Erzählerin leitet uns durch den Roman. Es handelt sich um eine von Panikattacken und Zwangsneurosen heimgesuchte junge Schriftstellerin, die sich selbst vor dem Verschwinden fürchtet. Während des Lesens alter ukrainischer Journale stößt sie auf einen Nachruf, der einem ihr unbekannten Historiker und Politiker namens Wjatscheslaw Lypynskyj gewidmet ist. Lypynskyj, erfahren wir, hatte sein gesamtes Leben der Idee einer ukrainischen Nation verschrieben. Dieses nationale Bekenntnis war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine außerordentliche Idee, geschaffen und geträumt von Schriftstellern, Linguisten und Historikern.

Die Ich-Erzählerin entwickelt eine regelrechte Obsession bezüglich Lypynskyjs. Mit ihr gemeinsam steigen wir in die Biografie des Nationalhelden ein. Die Revoltutionäre Vor-Stimmung im Zarenreich, der erste Weltkrieg, die Hoffnung auf einen eigenen Staat, die Oktoberrevolution und schließlich der Sieg der Bolschewisten, der alle Träume einer unabhängigen Nation zunichte machte. Wjatscheslaw Lypynskyj endet - all seine Träume zerschlagen - als Exilant in der österreichischen Provinz; verschlungen vom Wal, in die Vergessenheit eingetreten.

Die Flucht des Schreibens

Abseits der historischen Retrospektive sehen wir die Erzählerin immer wieder mit ihren gescheiterten Liebensgeschichten konfrontiert. Nach der aufgelösten Affäre mit einem Dozenten endet die psychisch Labile in einem Schriftsteller-Dasein abseits der Gesellschaft. Später folgen weitere Beziehungsabbrüche, die schließlich zum entgültigen Zusammenbruch führen. Die Auseinandersetzung mit der Nationalgeschichte und der Biografie Lypynskyjs wird von nun an zunehmend zu einer Art Beschäftigungstherapie.

Je weiter die Erzählerin in ihren retrospektiven Betrachtungen vordringt, desto stärker nährt sie sich sich selbst. So erscheint ihr - nachdem sie sogar das Geburtshaus des Nationalhelden besucht hatte -, bei der Betrachtung eines Fotos, Lypynskyjs Tochter, die plötzlich beginnt fragen zu stellen.

Der Roman enthält eine Fülle solch parabolischer Elemente, und erinnert in all seinen Facetten an die Notwendigkeit des Erinnerns selbst, und damit an die Notwendigkeit der Vergangenheitsbewältigung. Vielleicht kann die Literatur ein Stück weit dazu beitragen, einige Partikel vor dem Schlund des Wales zu bewahren. Und sollte dies nicht gelingen, so kann sie dennoch jenen Versuch unternehmen, den Tanja Maljartschuk mit ihrem Roman "Blauwal der Erinnerung" unternahm; nämlich das bereits Verschlungene vor dem Verdauen retten.


Tanja Maljartschuk, Blauwal der Erinnerung, Roman, a. d. Ukrainischen v. Maria Weissenböck; Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2019; 288 S., 22,- € (E-Book 18,99 €)

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