Thomas Bauer hat mit "Die Vereindeutigung der Welt - Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt" einen kurzen und wichtigen Essay über die Gefahren der allumfassenden Angleichung geschrieben.
Das Sterben der Vielfalt
Das Absterben der Vielfalt ist in allen Bereichen unseres Lebens zu beobachten. Es hat begonnen, um uns herum, direkt vor unseren Augen, mit dem stetigen schrumpfen der Vögel- und Insektenbestände, mit dem allmählichen Aussterben bedrohter Pflanzenarten. Es ist zu beobachten an der Vervielfältigung von Fernseh- und Youtubekanälen, an der Masse uns überschwemmender Produktangebote und deren Bewerbungen: eine Vervielfältigung, die nur eine Scheinvielfalt produziert. In Wahrheit mündet das stetig Neue in einem Meer aus Neuem, in dem ein Nivellierungsprozess stattfindet der letzlich zu ein- und demselben Content führt. Wohin wir auch schauen, so schließt Thomas Bauer die Einleitung seines schmalen Buches ab, überall ist "eine Tendenz zu einem Weniger an Vielfalt" zu beobachten.
Der zentrale Begriff in Bauers Analyse lautet "Ambiguitätstoleranz". Damit ist die Fähigkeit gemeint, Uneindeutigkeiten zu ertragen und Ambivalenzen zu akzeptieren. Wer es nicht schafft Widersprüche auszuhalten, flüchtet sich, so Bauer, in gesellschaftlich meist ungünstige Haltungen. Im Falle der Religiosität, die im Buch neben den Betrachtungen von Kunst und Politik einen wichtigen Teil einnimmt, bedeutet dies entweder fundamentalistisch oder gleichgültig zu werden. Beide Akteure, sowohl der Fundamentalist als auch der Gleichgültige, sind Beispiele für Vertreter der "Ambiguitätsintoleranz". Wie diese Haltungen mit einer "Vereindeutigung der Welt" zusammenhängen, und welche weiteren Folgen aus derselben resultieren könnten, beschreibt Bauer im laufe seines Buches auf nachvollziehbare Weise.
Selbst die Kunst, die für gewöhnlich ein "anything goes" proklamiert, sich pluralistische Vieldeutigkeit und Polyvalenz auf die Fahne schreibt, ist längst dem Vereindeutigungsprozess zum Opfer gefallen. Bauer kritisiert hier beispielsweise Schönbergs Zwölftontechnik, als ein geradezu mathematisches Verfahren der Kunstproduktion, welches Abweichungen kaum zulässt.
Der Essay erscheint als Warnsignal in einer immer stärker zugeschnittenen Welt, in der die Akzeptanz von Widersprüchlichkeit und Nicht-Greifbarem zu einem Moment der Individualisierung wird. Das Schöne daran ist, dass man sich mit- und nach der Lektüre beinahe in jeder Alltagssituation selbst auf die Probe stellen kann: Wie selbstverständlich ist für mich das Verlangen nach einer eindeutigen Entscheidung? Was lasse ich zu?
Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt - Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt; Reclam Verlag, Stuttgard, 2018, 104 S., 5,49 €
Hier bestellen
Topnews
Ein Geburtstagskind im November: Astrid Lindgren
Geburtstagskind im Oktober: Benno Pludra zum 100. Geburtstag
Das Geburtstagskind im September: Roald Dahl – Der Kinderschreck mit Engelszunge
Ein Geburtstagskind im August: Johann Wolfgang von Goethe
Hans Fallada – Chronist der kleinen Leute und der inneren Kämpfe
Ein Geburtstagskind im Juni: Bertha von Suttner – Die Unbequeme mit der Feder
Ein Geburtstagskind im Mai: Johannes R. Becher
Ein Geburtstagskind im April: Stefan Heym
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Die allerschönste Abhängigkeit!
Der letzte DDR-Funktionär: Egon Krenz stellte seine Memoiren vor
Grün träumen
Für den Umbau des politischen Systems!
Europa - Länder, Menschen, Hintergründe
"Nicht weniger streiten, sondern besser"
Wo der Bürger Kunde wird, ist kein Staat mehr möglich
J.K. Rowling: "Böses Blut" im Sturm der Anklage
Ein Autor der Neuen Rechten?
Philosoph Omri Boehm über ein Ende des Nahostkonfliktes
Richard David Precht: Die Grenzen der künstlichen Intelligenz
Spannende Neuerscheinungen bei Suhrkamp!
Verlasst doch mal den Hörsaal!
Sie wünschen sich die Diktatur
Maischberger im Visier: Aktionskünstler greift Moderatorin an
Aktuelles
Jahresrückblick Literatur 2025
Zwei Listen, zwei Realitäten: Was Bestseller über das Lesen erzählen
Ludwig Tiecks „Der Weihnachtsabend“ – eine romantische Erzählung über Armut, Nähe und das plötzliche Gute
Krieg in der Sprache – wie sich Gewalt in unseren Worten versteckt
Literaturhaus Leipzig vor dem Aus: Petition und Stadtratsdebatte um Erhalt der Institution
Thomas Manns „Buddenbrooks“ – Vom Leben, das langsam durch die Decke tropft
Mignon Kleinbek: Wintertöchter – Die Frauen
Grimms Märchen – Zuckerwatte, Wolfsgeheul und ganz viel „Noch eins!“
Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt von Maya Angelou – Ein Mädchen, eine Stimme, ein Land im Fieber