Mit „Der stille Freund“ legt Ferdinand von Schirach einen neuen Band mit Erzählungen und Reflexionen vor – Texte über Verletzlichkeit, Zufall und die Frage, was ein gutes Leben zusammenhält. Schauplätze reichen von Berlin bis Kapstadt, Rom, Wien und der Côte d’Azur; immer wieder tauchen Kunst, Recht, Musik und Philosophie als Orientierungsmarken auf. Schon die Verlagsankündigung positioniert das Buch ausdrücklich als neue Erzählungen nach Kaffee und Zigaretten und Nachmittage – kein Roman, sondern eine Sammlung, die biografische Miniaturen und kulturgeschichtliche Skizzen mischt.
Handlung von Der stille Freund: Von Unfällen, Lebensbilanzen und Kulturfiguren
Der Band eröffnet mit einer Erzählerfigur, die den Begriff „stiller Freund“ aus einem Moment existenzieller Klarheit herleitet. Die Tonlage: lakonisch, genau, nah an der Beobachtung. In weiteren Stücken streift Schirach private Begegnungen, historische Episoden und Porträts – u. a. von Gottfried von Cramm, Adolf Loos und Egon Friedell. Statt linearer Handlung dominieren Situationen: ein Flug über der Savanne, ein Gerichtssaal-Echo, eine Museumsbetrachtung, eine beiläufige Geste, die plötzlich eine Lebenslinie sichtbar macht. Die Texte halten bewusst Distanz zu fertigen Antworten; sie laden ein, das Zwischen zu lesen: zwischen Fakten und Deutung, zwischen Schuld und Milde, zwischen Mythos und Alltag. (Rahmen und Figurennennungen sind in der Leseprobe und Verlagsbeschreibung belegt.)
Zufall, Würde, Erinnerung
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Zufall & Kontingenz: Immer wieder kippt ein Leben an einem unplanbaren Moment; daraus erwächst eine leise Ethik des Nicht-Urteilens.
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Würde & Recht: Schirachs juristischer Blick bleibt spürbar: Wie halten wir am Prinzip fest, wenn Biografie und Umstände dagegen sprechen?
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Kunst als Trost und Prüfung: Vermeer, Architektur, Literatur – Kunstwerke werden zu Prüfsteinen der Wahrnehmung, nicht zur Dekoration.
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Erinnerung statt Thesen: Der Band argumentiert selten frontal; er erzählt, um denken zu machen.
Vom Gerichtssaal ins Feuilleton
Schirach ist vielen als Strafverteidiger- und Gerichtsautor bekannt; mit den jüngsten Bänden verschiebt er seinen Schwerpunkt noch klarer in Richtung kultur- und ideengeschichtlicher Miniaturen. Kritiken betonen genau diese Doppelbewegung: starke erzählerische Miniaturen, daneben Essay-Passagen, die nicht immer tragen – eine Mischung, die den Band bewusst uneinheitlich macht und ihn aus dem Genre-Schubladen-Denken löst.
Bemerkenswert: Das Buch dient zugleich als Grundlage für ein Bühnenprogramm „Der stille Freund“, mit dem Schirach ab Herbst 2026 im deutschsprachigen Raum touren will – ein Hinweis darauf, wie performativ die Texte gedacht sind: als gesprochene Reflexionen zwischen Literatur, Recht und Philosophie.
Lakonie mit Leuchtmomenten
Typisch Schirach: kurze Sätze, scharfe Bilder, karge Emphase. Die besten Texte funktionieren wie Präzedenzfälle: ein Fall, ein Bild, ein Gedanke – und dann Stille. Besonders in den erzählerischen Stücken entsteht Sog aus Detailgenauigkeit (Ort, Geste, Geruch), während einige essayistische Passagen kalkuliert programmatic wirken. Genau diese Reibung macht den Band interessant: Er lädt dazu ein, Position zu beziehen – was trägt, was nicht? (So auch mehrere frühe Rezensionen.)
Für wen eignet sich „Der stille Freund“?
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Leserinnen und Leser von Kurzprosa, die präzise Momentaufnahmen und moralische Grautöne schätzen.
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Buchclubs, die über Zufall, Verantwortung, Trost durch Kunst diskutieren möchten (hier tragen die Porträts historischer Figuren).
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Einsteiger in Schirach, die seine Erzählstimme kennlernen möchten – ohne den juristischen „Krimi-Druck“ der frühen Bände.
Kritische Einschätzung – Stärken & Schwächen
Stärken
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Hohe Verdichtung: Viele Texte zünden in wenigen Seiten – präzise, erinnerbar, offen für Deutung.
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Kulturelle Brücken: Literatur, Kunst, Recht greifen organisch ineinander; das erweitert den Resonanzraum der Erzählungen.
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Lesbarkeit mit Tiefgang: Die Lakonie lädt ein; der Nachhall kommt später – ideal für erneutes Lesen.
Schwächen
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Unebenes Terrain: Einige Essays strecken die These länger, als ihr trägt – Spannung sinkt. (So moniert u. a. die Süddeutsche Zeitung.)
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Hoher Vorwissensgrad: Bei kulturhistorischen Bezügen (z. B. Loos, Friedell) hilft Kontextwissen – ohne es verlieren Passagen an Schärfe.
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Kein klassischer Spannungsbogen: Wer einen durchgehenden Plot erwartet, wird den Band als zu sprunghaftempfinden.
Häufige Fragen – knapp & hilfreich
Ist „Der stille Freund“ ein Roman oder Erzählband?
Ein Erzählband (mit essayistischen Stücken), angekündigt als „neue Erzählungen“ nach Kaffee und Zigaretten und Nachmittage.
Welche Themen dominieren?
Zufall, Würde, Kunst, Sterblichkeit – oft an realen Orten und Personen gespiegelt; die Texte operieren zwischen Fallvignette und kultureller Miniatur.
Gibt es eine verbindende Idee?
Ja: der „stille Freund“ als Bild für Trost/Moment der Klarheit, auf das der Band immer wieder zurückkommt – explizit in der Einleitung gesetzt.
Wie fällt das Medienecho aus?
Gemischt-positiv: starke Miniaturen, durchwachsene Essays; zugleich der Hinweis, dass Schirach sich bewusst in Richtung Kulturessay streckt.
Über den Autor: Ferdinand von Schirach (Kurzprofil)
Ferdinand von Schirach (*1964) wurde mit Erzählbänden (Verbrechen, Schuld) und Stücken (Terror, Gott) international bekannt; seine Bücher erscheinen in über 40 Ländern, wurden verfilmt und vielfach auf Bühnen gebracht. Zuletzt experimentierte er verstärkt mit Essay- und Bühnenformaten (Regen). „Der stille Freund“ setzt diese Linie fort und bildet zudem die Vorlage für ein Tour-Programm ab 2026.
Leise, klug, nicht immer gleich – aber lange nachwirkend
„Der stille Freund“ ist kein Showstück, sondern ein Nachdenk-Buch: stark, wo es zeigt, schwächer, wo es erklärt. Wer sich auf karge Prosa und kulturelle Seitengänge einlässt, findet hier Erzählkunst mit Gewissen – Texte, die nicht behaupten, sondern befragen. Genau das macht ihren Reiz aus.
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