Hanna Krause, Blumenbinderin, Kranfahrerin, Mutter von sechs Kindern, Zeitzeugin wider Willen – oder besser: Zeitdurchlebende. Denn das, was Gröschner erzählt, ist nicht bloß eine Geschichte über ein Jahrhundert, sondern ein Jahrhundert, das sich in einem einzigen Körper eingeschrieben hat. Ein Roman, der das Vergessen sichtbar macht, ohne laut zu werden. Und das Erzählen wieder dort verankert, wo es oft ignoriert wird: im Alltag, in den Händen, im Gestern, das nicht vergeht.
Leben als Last und Aussicht
Hanna lebt in Magdeburg, verlässt die Stadt nur ein einziges Mal. Alles andere kommt zu ihr: Kaiser, Krieg, Nazis, DDR, Wende, BRD. Sie verliert Kinder, einen Blumenladen, ihre Jugend – aber nicht ihre Haltung. In der Halle eines Schwermaschinenbaubetriebs hebt sie schwere Lasten und beobachtet von oben, wie Menschen unten aneinander vorbeileben. Gröschner erzählt das ohne Überhöhung, aber mit einem Blick, der unter die Haut geht. „Anständig bleiben“, heißt Hannas einziges Credo. Und wer das für altmodisch hält, könnte sich fragen, wann es zuletzt jemandem in einem Roman so ernst damit war.
Reale Literatur
Gröschner stilisiert ihre Figur nicht zur Heldin, sie schreibt sie dorthin, wo Heldenbiografien oft enden: an die Ränder der Geschichte. Dabei ist ihre Sprache so unaufgeregt wie genau. Keine falsche Nostalgie, keine Denkmalrhetorik. Dafür Sätze, die durch ihre Sparsamkeit Gewicht bekommen. Ein Satz wie „sie starb rechtzeitig, bevor sie die Welt nicht mehr verstand“ steht da beiläufig und trifft doch mitten in ein kollektives Gefühl: das der Überforderung durch Beschleunigung.
Eine literarische Archäologie
Wer diesem Roman folgt, geht nicht durch Schlachtfelder oder Parlamentsflure, sondern durch Hinterzimmer, Waschküchen, Fabrikhallen. Und entdeckt, dass Geschichte dort nicht weniger geschieht. Im Gegenteil: Sie bleibt dort kleben, an der Haut, im Harz an den Fingern, zwischen den Falten, die sich „wie ein Delta“ über den Mund legen. Gröschner schreibt keine Geschichte von oben nach unten, sondern von innen nach außen. Ihre Protagonistin ist eine leise Heldin. Und gerade deshalb eine unbequeme Erinnerung daran, wie viel aufrechter Alltag bedeuten kann.
Zwischen Industrieschmutz und Blumenduft
Schwebende Lasten ist nicht nur ein Frauenroman, aber ganz entschieden ein Roman über eine Frau. Einer, der zeigt, was passiert, wenn man nicht die Welt retten will, sondern einfach lebt – mit Rückgrat, mit Wut, mit müdem Humor. Das Industriezeitalter verabschiedet sich hier nicht mit Pauken, sondern mit einer letzten Schicht unter dem Kran. Und was bleibt, ist der Blick einer, die von oben auf uns schaut. Nicht überheblich, sondern abgeklärt.
Über die Autorin Annett Gröschner
Annett Gröschner, 1964 in Magdeburg geboren, gehört seit Jahren zu den beharrlich genauen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie lebt seit den 1980er-Jahren in Berlin, wo sie Germanistik und Geschichte studierte, und arbeitet seither als freie Schriftstellerin und Journalistin. Ihre Bücher sind keine lauten Gesten, sondern präzise Beobachtungen: der Roman Moskauer Eis (2000), der das geteilte und zusammenwachsende Berlin in den Blick nahm, oder Walpurgistag(2011), eine Collage über den Prenzlauer Berg, die alltägliche Geschichten mit dem sozialen Umbruch verband.
Gröschner schreibt, als würde sie Archive öffnen, in denen keine Dokumente liegen, sondern Leben: Alltagsgegenstände, Wörter, Gerüche, vergessene Biografien. Dafür wurde sie vielfach ausgezeichnet – unter anderem mit dem Klopstock-Preis für neue Literatur, dem Fontanepreis und 2025 mit der Ernennung zur Mainzer Stadtschreiberin.
Mit Schwebende Lasten ist sie auf der Longlist des Deutschen Buchpreises vertreten. Es ist eine konsequente Fortsetzung ihrer Arbeit: der Versuch, das Unspektakuläre zu würdigen, den sogenannten kleinen Leuten nicht nur eine Stimme, sondern auch einen Platz im Gedächtnis zu geben. Ihre Literatur ist frei von ideologischem Lärm, aber durchdrungen von gesellschaftlichem Bewusstsein.
Wer Gröschner liest, merkt schnell: Sie schreibt nicht über Geschichte, sie lässt sie atmen.
Roman, Annett Gröschner, C. H. Beck, erschienen am 21. März 2025