Die SWR-Bestenliste bietet jeden Monat einen tiefen Einblick in die Vielfalt und Qualität der deutschsprachigen Literaturszene. Gegründet 1975 von Jürgen Lodemann, wird sie von 30 Kritikern zusammengestellt, die vier Titel nominieren und nach einem Punktesystem bewerten. Daraus entsteht eine Liste von zehn Büchern, die es wert sind, gelesen zu werden. Im Januar 2025 sind diese Werke besonders hervorgestochen:
Die Top 10 der SWR-Bestenliste – Januar 2025
1. Samantha Harvey: Umlaufbahnen (77 Punkte)
Der Booker-Prize-Gewinner verknüpft philosophische Fragen mit poetischen Bildern. In der Isolation des Weltraums erzählt Harvey von sechs Astronauten, die nicht nur die Erde, sondern auch sich selbst neu entdecken. Erschienen bei: DTV
2.Paul Lynch: Das Lied des Propheten (75 Punkte)
Ein beklemmendes Szenario: In Irland setzt eine Einheitspartei Notstandsgesetze durch, die die Demokratie aushöhlen. Lynch zeigt in eindringlicher Sprache, wie Dystopie und menschliche Kämpfe Hand in Hand gehen. Erschienen bei: Klett-Cotta Verlag
3. Lucy Fricke: Das Fest (55 Punkte)
Ein stiller, aber eindringlicher Roman über einen Filmregisseur in der Midlife-Crisis, der von seiner besten Freundin dazu gezwungen wird, sein Leben neu zu überdenken. Ein kluger, feinfühliger Blick auf Freundschaft und Liebe. Erschienen bei: Claassen Verlag
4. George Saunders: Tag der Befreiung (40 Punkte)
Saunders verwebt Gegenwart und Zukunft in einer Sammlung von Kurzgeschichten, die die Abgründe und Hoffnungen der modernen Welt hinterfragen. Düster, aber mit einem Hoffnungsschimmer. Erschienen bei: Luchterhand Literaturverlag
5. Botho Strauß: Das Schattengetuschel (36 Punkte)
Zum 80. Geburtstag des gefeierten Dramatikers erscheint eine Sammlung von Szenen und Beobachtungen, durchzogen von feinem Humor. Ein Alterswerk, das sowohl leichtfüßig als auch tiefgründig ist. Erschienen bei: Hanser Verlag
6. Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte 2004–2021 (34 Punkte)
Das späte lyrische Schaffen der 2021 verstorbenen Dichterin, herausgegeben und kommentiert von Marcel Beyer. Experimentierfreudig bis zuletzt, fängt Mayröckers Werk die Essenz der modernen Poesie ein. Erschienen bei: Suhrkamp Verlag
7. Han Kang: Unmöglicher Abschied (31 Punkte)
Die Literaturnobelpreisträgerin aus Südkorea erzählt die Geschichte einer Freundschaft, die mit einem verdrängten Kapitel der koreanischen Vergangenheit verwoben ist. Ein emotional tiefgehender Roman. Erschienen bei: Aufbau Verlag
7. Joachim Meyerhoff: Man kann auch in die Höhe fallen (31 Punkte)
Der sechste Teil seines autobiografischen Zyklus „Alle Toten fliegen hoch“: Meyerhoff zieht sich aufs Land zurück, um zu schreiben. Humorvoll, aber mit ernsten Untertönen reflektiert er über sein Leben und seine Karriere. Erschienen bei: Kiepenheuer & Witsch Verlag
9. Clemens Böckmann:Was du kriegen kannst (28 Punkte)
Mit beeindruckender Präzision rekonstruiert Böckmann das Leben einer DDR-Sexarbeiterin und Stasi-Spionin. Ein Roman, der historische Fakten und persönliche Schicksale miteinander verbindet. Erschienen bei: Hanser Verlag
9. Agi Mishol: Gedicht für den unvollkommenen Menschen (24 Punkte)
Die bedeutende israelische Dichterin, geboren 1946 in Transsilvanien, verbindet Lebensfreude mit politischem Ernst. Ihre Gedichte bieten eine einzigartige Mischung aus Intimität und Universalität. Erschienen bei: Hanser Verlag
Lesen, Lesen, Lesen
Die SWR-Bestenliste beweist auch im Januar 2025 ihre Relevanz als Orientierungshilfe für Leser, die jenseits des Mainstreams nach außergewöhnlichen Werken suchen. Von philosophischen und gesellschaftskritischen Romanen bis hin zu poetischen und autobiografischen Texten spiegelt die Auswahl die Breite und Tiefe moderner Literatur wider.
Denis Schecks Empfehlung: Doris Vogels Dieses Buch gehört dem König 2.0
Obwohl Doris Vogels Dieses Buch gehört dem König 2.0 nicht in die Top 10 der SWR-Bestenliste vom Januar 2025 aufgenommen wurde, rückt es dank Denis Schecks besonderer Empfehlung ins verdiente Rampenlicht. Jeden Monat stellt ein Jury-Mitglied der SWR Bestenliste ein Werk vor, das bislang ein unentdecktes Dasein pflegt. Diesmal richtet Scheck seine Aufmerksamkeit auf Vogels lyrische Hommage an Elvis Presley – ein Werk, das sich mutig von konventionellen Erzählformen abhebt.
Ein gelungener literarischer Ansatz
Mit Dieses Buch gehört dem König 2.0, erschienen bei KrönerEditionKlöpfer, legt Doris Vogel ein bemerkenswertes Lyrikdebüt vor, das sich einem der prägendsten Mythen des 20. Jahrhunderts widmet: dem Leben von Elvis Presley. Vogel nähert sich dem „King of Rock 'n' Roll“ nicht mit einer klassischen Biografie, sondern erschließt sein Leben in lyrischen Fragmenten. Ihre Gedichte sind Momentaufnahmen, die die Extreme seines Daseins spürbar machen: den betörenden Glanz des Ruhms, die Einsamkeit hinter der Bühne und die Suche nach einem Sinn jenseits der öffentlichen Rolle.
Die Gedichte greifen Themen auf, die weit über Elvis’ Biografie hinausweisen. Sie beschäftigen sich mit Vergänglichkeit, dem Preis von Ruhm, Verlust und der Sehnsucht nach Transzendenz – in einer Sprache, die sowohl zugänglich als auch tiefgehend ist. Vogel gelingt es, die Ambivalenzen und Widersprüche eines Lebens in Worte zu fassen, das von Höhepunkten und Abgründen gleichermaßen geprägt war. Dabei vermeidet sie, Elvis auf ein bloßes Symbol zu reduzieren, sondern gibt ihm durch ihre Sprache eine spürbare Menschlichkeit.
Und da ist sie die Verbindung zu Bettine von Arnim
Der Titel des Buches ist eine bewusste Anspielung auf Bettine von Arnims Dieses Buch gehört dem König aus dem Jahr 1843. Während von Arnim den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. mit den sozialen Missständen ihrer Zeit konfrontierte, widmet sich Doris Vogel einem ganz anderen König – dem „King“ des Rock ’n’ Roll. Doch die Verbindung besteht: Auch Vogel nutzt die literarische Form, um sich mit einem großen Namen auseinanderzusetzen, und legt dabei den Fokus auf dessen menschliche Seite. Statt einer politischen Botschaft zeigt sie die Schattenseiten des Ruhms und die Widersprüche, die hinter dem Glanz verborgen liegen.
Was Denis Scheck über das Buch sagt:
Denis Scheck, Literaturkritiker und Mitglied der SWR Bestenliste, zeigt sich begeistert von Vogels Zugang zum Mythos Elvis Presley.
Er hebt Vogel´s wortgewaltige Beschreibung einer Ausnahmeexistenz hervor, die weit über die Person Elvis Presley hinausweist:
„Doris Vogels Gedichte erfassen das Leben eines Menschen, das durch Ruhm und Verehrung, aber auch durch Abstürze und Verzweiflung gekennzeichnet ist. Ausgerechnet in der wortgewaltigen Beschreibung einer Ausnahmeexistenz werden menschliche Universalien deutlich wie Einsamkeit, Verlust, Zerrissenheit – und Sehnsucht nach Transzendenz.“
Besonders beeindruckt zeigt sich Scheck von der Sprache der Gedichte, die er als ein „feinstkalibriertes Analyseinstrument“ beschreibt. Diese Sprache ermögliche neue Einblicke in ein bis heute faszinierendes Phänomen der Popkultur. Seine abschließende Bemerkung ist dabei so poetisch wie die Gedichte selbst:
„Lang lebe der König 2.0! Nach diesem Buch möchte man Royalist werden.“
Die Jury:
Gerrit Bartels (Berlin), Helmut Böttiger (Berlin), Gregor Dotzauer (Berlin), Martin Ebel (Zürich), Eberhard Falcke (München), Meike Fessmann (Berlin), Cornelia Geissler (Berlin), Paul Jandl (Berlin), Sandra Kegel (Frankfurt), Dirk Knipphals (Berlin), Anne-Dore Krohn (Berlin), Martina Läubli (Zürich), Jörg Magenau (Tübingen), Ijoma Mangold (Berlin), Klaus Nüchtern (Wien), Jutta Person (Berlin), Iris Radisch (Hamburg), Denis Scheck (Köln), Christoph Schröder (Frankfurt), Julia Schröder (Stuttgart), Gustav Seibt (Berlin), Shirin Sojitrawalla (Wiesbaden), Hubert Spiegel (Frankfurt), Nicola Steiner (Zürich), Daniela Strigl (Wien), Beate Tröger (Frankfurt), Kirsten Voigt (Baden-Baden), Jan Wiele (Frankfurt), Insa Wilke (Berlin), Hubert Winkels (Köln).
zum Hören oder im Radio am So., 5.1.2025 17:04 Uhr auf SWR Kultur
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