In ihrem hochgelobten Debütroman "Was man sät", erzählt Marieke Lucas Rijneveld von der grausamen Begegnung mit dem Tod, dem Zerbrechen einer Familie und dem Aufkeimen sexueller Begierde. Vor kurzem erst, wurde das Buch der 29-Jährigen mit dem International Booker Prize ausgezeichnet.
Schon dem Auftakt des Debütromans "Was man sät" der niederländischen Autorin Marieke Lucas Rijneveld wohnt etwas Bedrängendes inne. Die zwölfjährige Jas, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird, sitzt mit ihren Eltern und Geschwistern am Frühstückstisch. Zwei Tage noch, dann ist Weihnachten. Ein bedeutsames Fest für die strenggläubige orthodox-calvinistische Familie, die fernab des gesellschaftlichen Trubels auf einem Bauernhof in der niederländischen Provinz lebt. Kühe, Kälber, Weiden, Stille. Die Eltern mahnen mit Versen aus dem Alten Testament, der Ablauf am Frühstücksstück ist streng getaktet: Ein Glas Milch, dann etwas Herzhaftes, dann etwas Süßes, dann: Danket dem Herrn.
Dass dieses gefestigte - und vielleicht auch harmonische - Beisammensein erschüttert, ja zerrissen werden wird, weiß der Leser bereits nach der Lektüre des Klappentextes. Entsprechend schnell versteht man, dass die Autorin hier aufbaut, was bald schon eingerissen werden wird; dass die heraufbeschworene Wärme also nur im Dienste der folgenden Kälte steht, im Zeichen des Todes. Und der lässt nicht lange auf sich warten. Jas´ älterer Bruder Matthies verlässt den Frühstückstisch, um mit Freunden Schlittschuhlaufen zu gehen. Jas will mit, ihr Bruder verneint. Es wird die letzte Verneinung gegenüber der jüngeren Schwester gewesen sein; das Eis des Sees wird brechen und Matthies sterben.
Der Tod, der die Familie zersprengt
Und mit dem Eis bricht auch das familiäre Miteinander. Der Verlust des Sohnes überschattet die Beziehung zwischen Eltern und Kinder; die Mutter magert zunehmend ab, isst nichts mehr, der Vater flüchtet sich in die Arbeit auf dem Bauernhof. Jas´ Gedanken werden fortan vom Denken und Widerdenken an den Tod bestimmt, der plötzlich überall, hinter jeder Ecke, zu lauern scheint. Der Tod, das ist der nun leere Haken, an dem Matthies´ Jacke hing; das ist der Spielleiter des Spiels: Wer wird als nächstes Sterben und wie?, mit dem sich die Kinder, fern der elterlichen Liebe, ihre Zeit vertreiben. Hinzu kommt die Provinz, die Leere der Wochen, die gefüllt werden will.
Wir begleiten Jas nun durch eine Welt der Grausamkeit, der Neurosen, der dunklen Zeichen und Drohungen. Der strenge Glaube, unter dem das Mädchen aufwuchs, spiegelt sich schnell in ihrer Überzeugung, dass sie schuld am Tod ihres Bruders hat, denn: Matthies´ Ableben, so glaubt die Familie, ist eine Strafe Gottes. Und so durchqueren die Kinder eine eisige Welt auf der Suche nach Erklärungen für den ihnen widerfahrenden Schrecken. Vom Verlust geprägt, von den Eltern abgekapselt, wachsen sie heran.
Bewältigung des Verlustes
Dass in diese Phase der beinahe unmöglichen Trauerbewältigung das Aufkeimen der eigenen Sexualität fällt, führt zu Szenen, deren Abläufe zum Teil nur schwer zu ertragen sind. Jas schaut beispielsweise dabei zu, wie ihr Bruder ihre kleinere Schwester mit einem Beatmungsgerät missbraucht. Opfer bringen. Man muss Opfer bringen. Immer wieder rechtfertigen Bibel-Zitate - die sich die Protagonistin in solch furchtbaren Situationen immer wieder selber vorsagt - das Geschehende. Gott ist, wie der Tod, stets anwesend. Er ist der Restbestand der elterlichen Nähe, die nun fehlt.
"Was man sät" beschreibt nicht nur die enorme Sprengkraft eines plötzlichen Kontrollverlustes. Marieke Lucas Rijneveld setzt diesen Verlust in ihrem Buch vielmehr voraus und zeigt uns Figuren, die haltlos ins Leere greifen. Wenn der Schrei nach Hilfe nicht beantwortet werden kann, dann wird das Verklingen der eigenen Stimme zum Halt; dann werden die alltäglichsten Begegnungen zum Zeichen.
Marieke Lucas Rijneveld, "Was man sät"; Suhrkamp Verlag, 2019, 317 Seiten, 22 Euro (Gebundenes Buch), 11 Euro (Taschenbuch)
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