Der erste Lesetag der TDDL 2025 „Wir nehmen uns die Freiheit, zu gestalten“ – Nava Ebrahimi Tag 1 beim Bachmannpreis 2025

Vorlesen

Am 26. Juni 2025 hätte Ingeborg Bachmann ihren 99. Geburtstag gefeiert – ein Anlass, der schwerer wog als das bloße Gedenken. Denn mit der Eröffnungsrede der Bachmann-Preisträgerin von 2021, Nava Ebrahimi, begannen die 49. Tage der deutschsprachigen Literatur nicht leichthändig, sondern mit einem poetisch-wütenden Nachdenken über den Zustand der Welt und die Aufgabe der Literatur darin. Ebrahimi führte durch „Drei Tage im Mai“, ein Text, der sich essayistisch, autobiografisch und essayhaft gebrochen durch Klimakrise, Weltpolitik und persönliche Verluste tastete – und dabei nie ganz ins Dunkel kippte. Auch wenn die Hoffnung fragil blieb, war sie doch spürbar. Als Mahnung, als Möglichkeit, als Aufgabe.

cms.wojia Bachmannpreis

Die Texte sind nachzulesen unter: https://bachmannpreis.orf.at/tags/texte2025/

und immer live dabei unter: https://www.3sat.de/kultur/tage-der-deutschsprachigen-literatur .

Und dann begann das Lesen. Der erste Tag der TDDL am 26. Juni 2025 war furios – folgende Texte wurden vorgestellt:

Fatima Khan: „Madonna in den Trümmern“

Fatima Khan eröffnet das Wettlesen mit einem Text, der nicht laut sein muss, um zu treffen. „Liebster Abba“, schreibt sie – und doch ist dieser Brief weniger Zuwendung als Abrechnung. Zwischen Adresszeile und Erinnerung entfaltet sich das Porträt einer Tochter, die gelernt hat, sich mit Sprache zu verteidigen. Kein Pathos, keine Pose – dafür Sätze, die lange nachhallen.

Sie duzt den Vater, zum ersten Mal. Es ist ein stiller Bruch mit einer Ordnung, die sie ein Leben lang kleinhalten wollte. Der Text tastet sich an Gewalt, Sprachverlust und Trotz heran, bis er sich im zweiten Teil, „Status quo ante bellum“, in dichte poetische Bilder verdichtet. Jeder Satz ein Widerstand. Jeder Absatz ein kurzer Sieg.

Khan versucht, jede Regung, jede Handlung zu begründen, was dem Text eine eigentümliche Spannung, aber auch eine gewisse Redundanz verleiht. Das Bedürfnis, sich selbst in Echtzeit zu erklären, erzeugt Dichte, verhindert jedoch stellenweise literarische Verdichtung. So bleibt ein intensives, aber oft überformtes Erzählen, das von Herkunft, Trauma und dem Ringen um Sprache spricht – eindrucksvoll, wenn auch streckenweise zu erklärungsbedürftig.

Insgesamt ist „Madonna in den Trümmern“ ein kraftvoller und bewegender Text, der wichtige gesellschaftliche Themen anspricht und zum Nachdenken anregt. Khans Fähigkeit, persönliche Erfahrungen mit universellen Fragen zu verbinden, macht diesen Text zu einem bedeutenden Beitrag zur zeitgenössischen Literatur.

Nefeli Kavouras: „ZENTAUR“

Ein Text über den letzten Gang, ohne ihn je direkt zu beschreiben. Über das Warten auf den Tod, das Leben am Rande des Sterbebetts, das Aufbäumen in den kleinen Alltäglichkeiten – ein gestrichenes Würstchen, eine schiefe Bemerkung, ein Teenagerkuss.

Kavouras schreibt mit einer stillen Genauigkeit, die nichts beschönigt und doch nicht in Trostlosigkeit versinkt. Ihre Figuren sind ausgesetzt – der Tod ist da, aber keiner weiß, wie man ihn ansieht. Beklemmende Situationen wechseln mit Momenten leiser Komik, Gnade mit Müdigkeit, Zorn mit Zärtlichkeit. Und genau darin liegt die Stärke dieses Textes: Er lässt Platz für all das, was sich nicht sagen lässt. Und zeigt, was eben immer noch ist: das Leben.

Das Niveau ist hoch, aber nicht akademisch – eher emotional durchkomponiert, mit einem sehr sicheren Gefühl für Zwischentöne. Ein Text, der mehr andeutet als ausspricht – und sprachlich gerade dadurch überzeugt.

„Lambada tutto gas“ von Max Höfler

Wer sich beim Stichwort „Lambada“ auf Tropenrhythmus einstellt, wird von Max Höfler stattdessen in eine sprachliche Endlosschleife aus Überhitzung, Hyperventilation und hermetischem Humor geschleudert. Der Text ist ein lautes, bewusst überdrehtes Stimmengewirr, das sich zwischen Internetslang, Alltagsgroteske und medienironischer Selbstvermessung bewegt. Höfler lässt seine Sprache tänzeln, taumeln, überschlagen – bis zur satten Übersättigung.

Das ist stellenweise brillant: eine schäumende Kritik an Konsumkultur, Selbstvermarktung und Endgerätedepression, verkleidet als YouTube-Monolog eines digitalen Don Quijote. Das ist aber auch wahnsinnig anstrengend. Man muss bereit sein, sich auf die reine Volte einzulassen. Inhaltlich tritt der Text meist auf der Stelle – das Witzige wird bis ins Absurde gedehnt, die Geste überholt sich selbst.

„Lambada tutto gas“ will alles – Lyrik, Satire, Techno-Rant – und ist vor allem: anders. Anders um jeden Preis. Und ja, Hauptsach anders kann gut hegen – wenn man es aushält.

Laura Laabs: „Adlergestell“

In Laura Laabs’ Erzählung „Adlergestell“, gelesen auf Einladung von Laura de Weck, geschieht das eigentlich Unmögliche: Ein Kind blickt zurück – mit der Wucht gelebter Erfahrung, aber ohne das bleierne Pathos der Erwachsenen. Und der Text blickt mit. In präziser, poetischer Sprache und untergründigem Humor erzählt Laabs von einem Aufwachsen zwischen Sozialismusruine, Supermarktexplosion und Selbstbehauptung. Ein Erkundungsgang ins Terrain des politischen Kindseins – und das ohne nostalgische Nebelmaschinen.

Was wie ein Kindheitsprotokoll beginnt, entfaltet sich als scharfsinnige Montage aus Klassenkampf, Spreewaldgurkenkapitalismus und den leisen Formen des Verrats. Die Ich-Erzählerin, flankiert von Lenka mit den weichen Wangen und Chaline mit dem Blick einer verkannten Anarchistin, bewegt sich durch eine Welt, in der Möbel nicht verrückt werden, aber Menschen es tun – an Geschichte, an Gleichgültigkeit, an Verhältnissen.

Dass ausgerechnet das Schulheft mit dem Quallensticker zum Dokument politischer Ohnmacht wird, ist keine ironische Pointe, sondern tieftraurige Präzision. Der Text spielt virtuos mit den Verschiebungen von Sprache und Macht: Wer darf reden, wer wird gemeint, wer verschwindet? Die Erinnerung wird hier nicht verklärt, sondern traktiert, abgestaubt, auf ihre Splitter untersucht – mit dem Eifer einer Figur, die endlich nicht mehr stillhalten will.

Das ist nicht bloß Coming-of-Age, sondern auch Coming-to-Terms – mit einer Gegenwart, die sich aus kindlichem Protest und erwachsener Resignation speist. Dass Laura Laabs diese Gemengelage in solch geschliffene Prosa überführt, macht „Adlergestell“ zum vielleicht bemerkenswertesten Text des Tages. Ein feiner, kluger, sehr starker Text – mein Favorit dieses Lesetags.

Verena Stauffer: „Die Jäger von Chitwan“

Verena Stauffer will in ihrem Text alles: Nepal und Netzkrieg, Tiger und Telegram, Klimakatastrophe, Kolonialismus, toxische Männlichkeit, Naturromantik, politische Manipulation – und dazu ein Mädchen, das über die halbe Welt reist, um vielleicht sich selbst zu finden. „Die Jäger von Chitwan“ ist kein Erzähltext im klassischen Sinn, sondern ein assoziatives Konglomerat aus Szenen, Reflexionen, Listen, die sich in wuchernden Absätzen zu einem globalen Brennglas verdichten wollen.

Der sprachliche Zugriff ist eindrücklich: rhythmisch, dicht, oft poetisch im Zugriff. Doch diese Sprache gerät schnell unter die Räder der eigenen Ambition. Immer wieder werden Bilder aufgebaut, die sich kaum entfalten können, weil schon das nächste Thema wartet. Ein Tiger reißt Hunde, ein Elefant wird zum Serienmörder, ein Frühstückskellner zum Schattenmann der Erzählung, die sich zunehmend in eine Parabel über Kontrollverlust verwandelt.

Die großen Themen – Gewalt, Angst, Schutzbedürfnis, auch die Frage nach geopolitischer Verantwortung – drängen an allen Ecken, aber sie bleiben Behauptung. Der Text nennt viel, zeigt wenig. In seiner Struktur ähnelt er einem Tag im Internet: man klickt sich von Schlagzeile zu Schlagzeile, überall lodert eine Krise, und am Ende bleibt ein diffuser Schwindel zurück.

„Die Jäger von Chitwan“ hätte gut daran getan, das eigene Material zu zähmen. Weniger Elefanten, mehr Tiefe. Weniger Listen, mehr Blick. So bleibt ein Text, der in seiner Überfülle nicht scheitert, aber erdrückt – an sich selbst.

Tag 2 beim Bachmannpreis 2025

Gefällt mir
0
 

Topnews

Mehr zum Thema

Aktuelles

Rezensionen