John Irving „Der letzte Sessellift“ – Queeres Leben, Geister der Vergangenheit und Amerikas verdrängte Wahrheiten

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John Irvings letzter großer Roman Der letzte Sessellift ist mehr als ein umfangreiches Familiendrama – es ist ein literarisches Monument über die Geschichte queerer Identität, die Suche nach Herkunft, und die tiefe emotionale Verfasstheit von Menschen, die sich außerhalb gesellschaftlicher Normen bewegen. Mit großer erzählerischer Kraft verschränkt Irving Biografie, Geistergeschichte und politische Zeitdiagnose zu einem Werk, das zugleich intim und epochal wirkt.

Ein Vermächtnis – literarisch, politisch, menschlich. Cover: Diogenes Verlag

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Der letzte Sessellift

Die queere Familie als literarisches Zentrum

Im Zentrum steht Adam Brewster, der Sohn der Skifahrerin Rachel Brewster. Rachel wird 1941 während eines Skirennens in Aspen schwanger – vom Vater erfährt Adam nur, dass er ein namenloser Samenspender war, der keinerlei Rolle im Leben des Kindes spielen sollte. Rachel sieht ihren Sohn als Lebensprojekt, nicht als Konsequenz romantischer Liebe. Die beiden bleiben ein Leben lang auf erschütternd enge Weise verbunden – bis ins Erwachsenenalter teilen sie ein Bett, fast wie zwei Seelen in einem Körper. Diese radikale Nähe überschreitet konventionelle familiäre Grenzen, wird aber von Irving nicht moralisch gewertet, sondern als Ausdruck bedingungsloser Bindung gezeichnet.

Rachels Lebensentwurf ist offen lesbisch. Sie lebt mit Molly zusammen, später heiratet sie den Transmann Elliot Barlow, der ebenfalls Teil der queeren Familie wird. Adams Umfeld ist von queeren Identitäten durchdrungen – nicht als Ausnahme, sondern als Selbstverständlichkeit. In einer Zeit, in der LGBTQ+-Rechte in den USA noch massiv unter Druck stehen – insbesondere während der konservativen Reagan-Ära –, markiert diese familiäre Konstellation einen Akt des Widerstands.

Zwischen Reagan-Ära und Stonewall-Erbe: Queere Identität im politischen Kontext

Irving bettet das Leben seiner Figuren in die gesellschaftliche und politische Realität der USA ein. Die 1980er-Jahre sind geprägt von einer Rückkehr zu konservativen Werten, während zugleich die queere Bewegung seit Stonewall (1969) um Anerkennung, Schutz und Gleichberechtigung kämpft. Adam wächst mit einem Bewusstsein für diese Spannungen auf. Seine Familie lebt das, wofür andere noch auf die Straße gehen müssen – und zahlt dafür emotional einen Preis.

Der Roman reflektiert so auch die Entwicklung der LGBTQ+-Bewegung in den USA – von der Unsichtbarkeit zur Sichtbarkeit, vom Schweigen zur Forderung nach Rechten. Irving erzählt nicht direkt von Stonewall oder AIDS, aber sein Roman ist durchzogen von der gesellschaftlichen Repression, dem moralischen Druck und der Unsicherheit, mit der queeres Leben jahrzehntelang verbunden war.

Die Geister von Aspen: Spurensuche in der Vergangenheit

Ein weiterer Erzählstrang ist Adams lebenslange Suche nach seinem leiblichen Vater. Diese führt ihn immer wieder nach Aspen, wo Rachel einst das Skirennen bestritt und Adam gezeugt wurde. Aspen ist in diesem Roman nicht nur ein Ort, sondern ein mythischer Raum – eine Bühne, auf der sich Vergangenheit, Illusion und Realität überlagern.

In einem abgelegenen Hotel begegnet Adam immer wieder einer gespenstischen Erscheinung – einer Frau im grünen Pullover, die schweigend und unbewegt in den Korridoren auftaucht. Irving nutzt das Motiv des Gespensts nicht als Horror-Element, sondern als poetisches Symbol für verdrängte Wahrheiten. Diese Geister sind Projektionen von Schuld, Sehnsucht und Erinnerung – Spiegel der emotionalen Geister, die seine Figuren begleiten.

Wiederholungsmuster und emotionale Reproduktionen

Nach dem tragischen Tod seiner Cousine Nora – sie stirbt bei einem Amoklauf in einem Comedy-Club – entwickelt Adam eine enge Beziehung zu deren Partnerin. Diese Beziehung ist mehr als Trost – sie ist eine Wiederholung, fast eine Fortsetzung seiner Verbindung zur Mutter. Adam sucht Nähe, Verschmelzung, eine Form emotionaler Symbiose, die außerhalb klassischer Beziehungsmuster liegt.

Irving zeichnet hier kein pathologisches Bild, sondern fragt grundlegend: Was bedeutet emotionale Zugehörigkeit? Wer definiert Familie? Welche Formen der Liebe dürfen bestehen, wenn gesellschaftliche Normen versagen?

Stil, Struktur und das literarische Vermächtnis Irvings

Der letzte Sessellift ist ein vielstimmiges, experimentierfreudiges Werk. Teilweise als Filmskript geschrieben, reflektiert es Adams Beruf als Drehbuchautor – und bricht bewusst mit klassischen Erzählkonventionen. Die Sprache ist detailreich, stellenweise überbordend, stets aber getragen von Empathie und einem tiefen Interesse an menschlicher Komplexität.

Kritiker haben die Länge des Romans als ermüdend beschrieben – doch gerade diese narrative Ausdehnung erlaubt es Irving, seine Themen mit epischer Tiefe zu entwickeln. Die Tragikomik, das Spiel mit Identitäten, die erzählerische Geduld – all dies macht Der letzte Sessellift zu einem Roman, der nicht nur gelesen, sondern durchlebt werden will.

Ein Roman wie ein Lebenspanorama

Mit Der letzte Sessellift hat John Irving einen Roman vorgelegt, der in seiner emotionalen Tiefe, politischen Einbettung und erzählerischen Kraft das queere Amerika in all seiner Zerrissenheit und Schönheit sichtbar macht. Es ist ein Buch über das, was nicht in gesellschaftliche Raster passt – über Geister, die uns nicht loslassen, und über Familien, die sich jenseits von Blutsverwandtschaft konstituieren.

Ein Vermächtnis – literarisch, politisch, menschlich.

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Der letzte Sessellift

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