„Das Lächeln am Rand der Welt“ (Auszüge aus dem gleichnamigen Roman) „Das Lächeln am Rand der Welt“ (Auszüge aus dem gleichnamigen Roman)

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Mercedes und Kim in Finistère, am westlichsten Punkt Spaniens


Am Abend zuvor war die Sonne in einem ekstatischen Farbrausch untergegangen. An diesem Abend war der Himmel einheitlich blaugrau und die Sonne hing als leuchtendroter Feuerball über dem Horizont. Gestern war der Sonnenuntergang ein Happening gewesen, eine Explosion der Farben. Diesmal sank die Sonne rot und mit der Gravitas eines römischen Senators hinter die schwarzen Wasser des Atlantiks. Es wirkte sehr feierlich und dem Anlass angemessen. Sie tranken gemeinsam eine Flasche Wein und versuchten das Unvermeidliche hinauszuzögern. Irgendwann war die Flasche leer und der letzte Schluck getrunken. Es erschien ihnen allen richtig, sich hier, am Kap Finistère, voneinander zu verabschieden. Sie umarmten sich. „Passt auf euch auf!“ Kim und Mercedes stiegen den Hang hinauf zum Leuchtturm. Oben drehten sie sich noch einmal um und winkten. Dann gingen sie langsam wieder dem Ort entgegen. Es dauerte nicht lange, die Rucksäcke zu packen. Danach gingen sie auf den Balkon und blickten auf die Lichter des Hafens. Sie standen dicht nebeneinander und schwiegen. „That´s it. Ich werde das hier alles sehr vermissen.“ Kim hatte die Arme um sich gelegt, als würde sie frösteln. Sie dreht sich Mercedes zu. „Und dich werd ich ganz besonders vermissen.“ Dann liefen ihr Tränen über das Gesicht. Das Gleiche habe ich gestern Abend gedacht, ging es Mercedes durch den Kopf. Sie spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam und der Knoten in ihrem Bauch, den sie seit dem Sonnenuntergang gespürt hatte, löste sich auf. Sie umarmte Kim, hielt sie ganz fest und spürte die Tränen auf ihrer Wange. In ihr wurde etwas ganz weich. Dann küsste sie Kim. Sie dachte gar nicht nach, sondern folgte einfach ihrem Gefühl. Ihre Lippen waren weich und schmeckten nach Wein. Kim war ebenso von dem Kuss überrascht, wie Mercedes selbst. Doch ohne zu zögern erwiderte sie den Kuss. Es war ein langer, sanfter und sinnlicher Kuss. Sie schliefen nicht in dieser Nacht. Sie lagen nebeneinander, sich zugewandt. Für eine lange Zeit taten sie nichts anderes, als sich anzusehen, sich zu küssen und mit den Fingerspitzen ihre Gesichter zu streicheln. Es schien Stunden zu dauern, bis sie sich berührten. Um halb vier setzten sie sich, so wie sie waren, auf den Balkon. Sie hielten sich an der Hand. Mercedes rauchte und Kim nahm sich ebenfalls eine Zigarette. „Ich dachte, du rauchst nicht“, flüsterte Mercedes. Kim lächelte sie an. „Selten. Nur zu besonderen Gelegenheiten und an hohen Feiertagen.“

Doña Ana fuhr sie selbst zum Flughafen von Santiago. Sie schliefen, aneinander gelehnt, auf dem Rücksitz. Die liebenswürdige Vermieterin lieferte sie direkt vor dem Eingang des Flughafens ab. Sie umarmte sie. „Buen viajes, mi bonitas. Hasta la proxima vez!“ Am Check-in Schalter stand eine längere Schlange. Es betraf sie nicht. Sie hatten bereits online eingecheckt. Ihre Rucksäcke nahmen sie als Handgepäck mit durch die Sicherheitskontrollen. Mercedes blickte auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zum Boarding. Sie tranken noch einen Café und schlenderten durch den Duty-Free Shop. An Bord des Iberia Fliegers schnallten sie sich an und schlossen die Augen. Um kurz vor acht ging die Maschine in den Sinkflug, eine leicht blechern klingende Ansage weckte sie und ließ sie wissen, dass sie in wenigen Minuten in Madrid landen würden und dass das Wetter sonnig sei, bei derzeit angenehmen siebzehn Grad. Das Boarding für Mercedes Anschlussflug nach München war für neun Uhr geplant. „Wann geht es bei dir weiter?“ fragte sie Kim. „In drei Stunden. Mit Zwischenstopp in Doha bin ich in siebzehn Stunden, morgen früh um sieben, in Singapore.“ Mercedes längster Flug hatte nicht länger als zehn Stunden gedauert, die ihr bereits sehr lang erschienen. „Wow, das ist ein langer Flug.“ Kim grinste. „Halb so wild. Bis Doha schlafe ich vermutlich. Und danach trinke ich zwei Singapore Sling, schau mir ein, zwei Filme an und schlaf noch ein wenig. Wenn ich Glück hab´, komm ich halbwegs ausgeruht zuhause an.“ Sie liefen den scheinbar endlosen Gang zwischen den Gates des Terminals entlang. Es dauerte, trotz der Rollsteige, fast zehn Minuten, bis sie Gate K 19 erreichten. Mercedes Flug war bereits auf dem Display vermerkt. An einer Bar, ein paar Meter weiter, bestellten sie sich zwei Glas Weißen. „Schlechte Angewohnheiten soll man ja pflegen.“ Kim schmunzelte. Wirklich breit zu lächeln wollte ihr nicht gelingen. Glücksgefühl und Abschiedsschmerz hielten sich in ihr an den Händen und tanzten einen Tango. Sie fragte sich nicht, wie es Mercedes ging, denn sie konnte es an ihrem Gesicht ablesen. Jedem Anfang wohnt bereits ein Ende inne, ging ihr ein Zitat durch den Kopf. Aber dann dachte sie …und in jedem Ende liegt bereits ein neuer Anfang. Die Zeiger der Uhr schritten seelenlos und mit der Unbestechlichkeit eines preußischen Leibgardisten vorwärts. Eine dünne Blondine in einer roten Uniform trat hinter den Boarding Schalter. Kim verabscheute sie auf den ersten Blick. „Buenos dias, Señoras y Señores. Comenzamos con el embarque. Good Morning, Ladies and Gentlemen, we will start boarding… Los pasajeros….” Sie hörten nicht weiter hin. Sie umarmten sich und hielten sich fest, bis sich die Schlange vor dem Boarding Schalter in Bewegung setzte. Sie küssten sich noch einmal und dann reihte Mercedes sich in der Schlange ein. Sie bemühte sich nicht zu weinen und drehte sich auch nicht mehr um. Sie wäre ansonsten in Tränen ausgebrochen. Sie ging die Gangway entlang, grüßte automatisch die beiden Flugbegleiterinnen am Eingang der Maschine und setzte sich auf ihren Platz am Gang. Dann holte sie ihr Handy hervor und schrieb eine Nachricht. Sie schaltete ihr Handy wieder auf den Flugmodus und griff nach der Bordzeitschrift. Nach ein paar Minuten merkte sie, dass sie überhaupt nicht begriff, was sie da las. Sie legte die Zeitschrift weg und schloss die Augen. Es fiel ihr schwer klar zu denken, sie war übermüdet. Sie war noch immer ganz Gefühl. Die letzte Nacht und auch die letzten sechs Wochen auf dem Camino forderten ihren Tribut. So viele Eindrücke, so viel Intensität. Und Liebe.

Mit einem warmen, weichen Gefühl schlief sie ein, noch bevor das Flugzeug abgehoben hatte. Kim ging vorbei an weiteren Gates, bis sie das Ende von Terminal 4 erreichte. Sie stieg in einen grünen Bus, der sie zu Terminal 1 brachte. Bis zum Boarding hatte sie noch viel Zeit. Wie sollte sie die Zeit totschlagen? Ihr schräg gegenüber befand sich ein Victorias Secret Laden und direkt daneben eine noble Parfümerie. Vielleicht sollte sie dort ein wenig stöbern, die Verkäuferinnen beschäftigen und am Ende doch nichts kaufen? Oder sollte sie sich in den Burger-Laden am Ende der Einkaufsmeile setzen und sich etwas Soulfood in Form eines fetten Cheeseburgers und knuspriger Pommes Frites gönnen? Sie verwarf den Gedanken wieder. Wenn schon, dann Tapas. Der nächste Don Tapa war in Sichtweite. Fürs erste setzte sie sich in eine Bar und bestellte sich einen Weißwein. Im Geiste prostete sie Mercedes zu und lächelte. Sie blätterte in ihrer Foto-App durch die Bilder der letzten Tage. Einige Bilder wurden nicht richtig angezeigt. Sie öffnete den Settings Ordner. Natürlich, sie war immer noch im Flugmodus. Sie schaltete den Flugmodus aus und die Bilder waren klar erkennbar. Ein Ding! -Sound wies auf eine Nachricht hin. Das WhatsApp Symbol zeigte den Eingang einer Message an. Sie war von Mercedes. Ich vermisse Dich schon. Schau! Daneben ein Kussmund. Unter dem Text war ein Bild angehängt. Kim klickte darauf, um es zu vergrößern. Ein Screenshot. Sie las…

Your Flight

19.12. 12:20 - 07:00 Munich - Singapore

09.01. 23:55 - 06:00 Singapore – Munich

…und sie lächelte.


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