Die SWR-Bestenliste hebt Titel hervor, die oft an den - vom Verkauf ausgehenden - Bestsellerliste vorbeigehen. Einmal monatlich präsentiert die 30-köpfige Jury 10 lesenwerte Bücher. Ganz oben auf der aktuellen Liste steht Christine Wunnickes wunderbarer Roman "Die Dame mit der bemalten Hand". Wir schauen ins Buch.
Zwei Männer unterschiedlicher Provenienz, eine Insel und eine vieldeutige Welt. Christine Wunnicke schreibt mit "Die Dame mit der bemalten Hand" eine wunderbare Lobeshymne auf das Missverstehen, und schafft es damit auf Platz 1 der diesmonatigen SWR-Bestenliste. Warum der Platz mehr als verdient ist, und welche neun weiteren Bücher es auf die Liste geschafft haben, erfahren Sie im Artikel.
Vieldeutigkeit kann so schön sein
Wir leben ja bekanntlich in einer Zeit, in der sich ein nicht unerheblicher Teil nach Ruhe und Eindeutigkeit sehnt. Sich in Anbetracht einer schier unendlich erscheinenden Produktvielfalt entscheiden zu müssen, ist alles andere als einfach und bequem, denn mit jeder einzelnen Entscheidung spricht man sich gegen alle möglichen Alternativen aus. Nicht verwunderlich, dass da der Wunsch nach Eindeutigkeit aufblüht, nach klaren Ansagen. Ein Wunsch, der nicht zuletzt politisch fatale Auswirkungen haben kann.
Mit ihrem Roman "Die Dame mit der bemalten Hand" schreibt Christine Wunnicke eine Liebeserklärung an die Vieldeutigkeit der Welt und zeigt, welch großer Zauber im Missverständnis liegen kann; vorausgesetzt, man lässt sich darauf ein, die unterschiedlichen Aspekte ein und derselben Sache mit jemanden zu teilen.
Zwei Männer, eine Insel und ein Sternbild
Ihr Roman spielt im Jahr 1764 auf einer Insel namens Elephanta. Hier treffen zwei "Gestrandete" aufeinander, die völlig andere Reiseziele hatten. Der aus Norddeutschland kommende Mathematiker Carsten Niebuhr wollte eigentlich nach Arabien; und Meister Musa, ein persischer Astrolabien-Baumeister, hatte sich Mekka als Ziel gesetzt. Auf Elephanta treffen die beiden nun aufeinander und warten miteinander auf ihre Rettung.
Niebuhr ist übrigens eine reale Figur, ein Entdecker, auf dessen Aufzeichnungen und Notizen sich Christine Wunnicke im Laufe ihrer Arbeit immer wieder bezogen hat. Im Roman entkoppelt sich die Figur jedoch vom historischen Vorbild, die hier erzählte Geschichte ist fiktionalisiert. Zwischen dem Norddeutschen und dem Perser beginnt sich eine Freundschaft zu entwickeln, die ihren Anfang darin nimmt, dass Meister Musa seinen neuen zukünftigen Freund gesund pflegt. Diese Freundschaft verdrängt zunehmend das eigentliche Forschungsziel, welches sich Niebuhr für seine Reise gesetzt hat. Die Entdeckung, die er auf dieser neuen, merkwürdigen Reise machen wird, ist mit Sicherheit wertvoller, als all seine bisher gesetzten und gemeisterten Vorhaben. Gemeinsam mit Meister Musa schaut er in den Himmel und betrachtet das Sternenbild Kassiopeia. Beide Männer deuten die Anordnung der Sterne unterschiedlich, legen Bedeutung und Phantasien, womöglich sogar versteckte Wünsche in das Himmelszeichen. Hieraus entwickelte sich auch der Titel des Romanes "Die Dame mit der bemalten Hand".
Wunnickes Roman ist gerade deshalb so grandios, weil er nicht anklagt, sondern - auf sehr poetischer Weise - hinweist. Liest man das Sternbild als Stellvertreter aller möglichen Phänomene, so kommt man nicht umhin, mit der Lektüre dieses Buches nach der Möglichkeit eines phantastischen Miteinanders zu fragen. In der unterschiedlichen Ausdeutung ein und derselben Sache, erfahren wir Kulturen, Stimmungen, Erfahrungen und Hoffnungen. Auch der Hinweis darauf, dass es grad die nicht kalkulierten Reisen und Erfahrungen sind, die uns tiefgreifend verändern und bewegen, ist clever und unaufdringlich in dieser kurzen Geschichte verarbeitet.
Alle Bücher der SWR-Bestenliste
Christine Wunnicke - Die Dame mit der bemalten Hand
Kurt Drawert - Dresden. Die zweite Zeit
Macel Beyer - Dämonenräumdienst
Christoph Peters - Dorfroman
Thomas Hettche - Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste
Deniz Ohde - Streulicht
Dorothee Elminger - Aus der Zuckerfabrik
Lydia Davis - Es ist, wie´s ist
Ulrike Draesner - Schwitters
Paul Maar - Wie alles kam. Roman meiner Kindheit
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