Alles beginnt mit dem Nichts Percival Everett – Dr. No

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„Mich fasziniert, dass Nichts eine Unmöglichkeit darstellt“, sagt Percival Everett im aktuellen Interview mit der FAZ. Der Satz ist kein Aperçu, sondern Schlüssel zu einem Roman, der genau diese Paradoxie auslotet: Dr. No ist eine philosophisch-mathematische Spionagesatire, ein Spiel mit Genre, Identität und Ideologie – und zugleich eine subtile Bestandsaufnahme der politischen Gegenwart in den USA.

Percival Everett – Dr. No Percival Everett – Dr. No Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG

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Dr. No: Roman

Mit anarchischem Witz und analytischer Kälte führt Everett seinen Helden, den Mathematiker Wala Kitu, durch eine Welt, in der Logik nicht mehr als Wahrheit dient, sondern als Tarnung.

Ein Professor, ein Schurke, ein Hund

Wala Kitu, Professor an der Brown University, lebt zurückgezogen mit seinem einbeinigen Hund Trigo. Er hat keinen Führerschein, aber eine Spezialdisziplin: das „Nichts“. Sein Name – angeblich „Nichts“ in Tagalog wie Swahili – ist dabei nur der erste von vielen ironischen Brechungen.

Er wird rekrutiert von John Sill, einem schwarzen Milliardär und Möchtegern-Schurken, der Fort Knox stürmen will. Ziel: den ultimativen Beweis für das „Nichts“ zu liefern – gesellschaftlich, materiell, ideologisch. Was folgt, ist ein überdrehter Roadtrip durch Denkfiguren, Bond-Referenzen und eine Amerika-Satire, die ihre Wirkung gerade deshalb entfaltet, weil sie nie moralisiert.

Das System knirscht – auch sprachlich

Everett entwirft eine Welt, in der jede Autorität zur Karikatur gerinnt – von Agenten über Vizepräsidenten bis hin zu den Protagonisten selbst. Die Handlung unterläuft jedes Genreversprechen: Verfolgungsjagden führen in Sackgassen, Gespräche kreisen um das Nichts, das Unerzählbare wird zur Hauptfigur.

Die Übersetzung von Nikolaus Stingl hält dieses fragile Gefüge meisterhaft zusammen. Mit Formulierungen wie „traumfolgern“ oder „Fertig ist die Laube“ transportiert er nicht nur den Sprachwitz, sondern auch die dahinterliegende Haltung: eine Welt, in der Bedeutung zur Option geworden ist.

Wenn x = x keine Wahrheit mehr ist

Everett liebt das große Denken – und manchmal verrennt er sich darin. Auf Seite 52 lässt er seinen Erzähler sagen:

„Die Lüge ist das arithmetische Axiom, demzufolge x für jedes x auf der Welt gleich x ist.“

Da wird – und leider wird da der Mathematiker in mir wach – deutlich: Das ist kein philosophischer Geniestreich, sondern eine semantische Entgleisung. „x = x“ ist eine Tautologie, kein Glaubensbekenntnis. Everett meint vermutlich: Bedeutung ist nicht stabil, Zeichen sind nicht identisch mit dem, was sie meinen. Aber statt das erkenntnistheoretisch zu entfalten, presst er es in eine mathematische Form, die er dabei missversteht.

Denis Scheck, der Everett kürzlich in„Druckfrisch“interviewte, zeigte sich begeistert.

Politik als Farce – und bitterer Ernst

Was Dr. No so gegenwärtig macht, ist nicht die Story, sondern ihr Subtext. Everett schreibt über ein Amerika, das sich selbst nicht mehr erkennt:

„Amerika hat sich in einen Polizeistaat verwandelt“, sagt er in der FAZ. Er zitiert Philip K. Dick, denkt über Buchverbote und Zensur nach, benennt Rassismus und ideologische Entleerung als systemische Symptome. Figuren in seinem Roman verschwinden – nicht nur physisch, sondern auch digital. Menschen stellen fest, dass sie laut Google nie existiert haben. Es ist eine literarische Antwort auf ein politisches Klima, in dem das Wirkliche zunehmend wie Simulation erscheint.

Der Roman als subversiver Widerstand

Everett formuliert keine Lösung, aber er zeigt, wie Literatur subversiv sein kann, gerade wenn sie sich nicht festlegt. Das „Nichts“ in seinem Roman ist keine Leere, sondern eine ideologische Variable.

Er spielt mit James-Bond-Motiven, nur um deren koloniale Codes offenzulegen. Er konstruiert mathematische Denkfiguren, nur um ihre politische Instrumentalisierung zu entlarven. Der Humor schützt vor Dogma, die Form vor Plattheit.

Die Formel geht auf – mit Rest

Dr. No ist ein gewitzter, komplexer Roman über das Verschwinden von Bedeutung, die Fragwürdigkeit von Systemen – und die Notwendigkeit, trotzdem zu erzählen.

Nicht alles daran ist rund, nicht jede Behauptung tragfähig, doch Everett gelingt, was vielen fehlt: ein literarisches Spiel, das ebenso klug wie politisch ist – und das zeigt, wie Sprache unter Druck zum Widerstandsmittel werden kann.

Über den Autor Percival Everett

Percival Everett, geboren 1956 in Georgia, ist einer der vielseitigsten Autoren der USA. In Romanen wie Erasure, I Am Not Sidney Poitier oder James (Pulitzerpreis 2024) kombiniert er politische Schärfe mit literarischer Experimentierfreude. Everett lehrt Literatur in Los Angeles, lebt in Kalifornien und gilt als intellektuelle Ausnahmegestalt – und als einer der wenigen Autoren, die Komplexität nicht scheuen, sondern erzeugen.


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