Poröse Zeiten, offene Texte: Das Lesefestival im Brecht-Haus als Spiegel literarischer Gegenwartsdiagnosen

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Zwischen dem 25. und 29. August verwandelt sich das Brecht-Haus in Berlin erneut in einen Ort der literarischen Durchlässigkeit: Das Lesefestival „Poröse Gegenwarten, poröse Texte“ bringt 20 Autorinnen und Autoren zusammen, deren Texte sich um das schillernde Konzept der Porosität gruppieren. Was auf den ersten Blick wie eine ästhetische Geste klingt, entpuppt sich schnell als politisch-literarisches Prinzip, das das Fragmentarische nicht nur duldet, sondern kultiviert.

Literatur im Zeichen der Durchlässigkeit: Das Festival im Brecht-Haus bringt ab dem 25. August Texte an die Öffentlichkeit, die Porosität als Haltung verstehen. Literatur im Zeichen der Durchlässigkeit: Das Festival im Brecht-Haus bringt ab dem 25. August Texte an die Öffentlichkeit, die Porosität als Haltung verstehen. © Annagraphics

Vom Riss als Erkenntnisform

Die Idee der Porosität ist nicht neu – aber in ihrer aktuellen Rückkehr durchaus zeitgemäß. Asja Lācis und Walter Benjamin haben in ihrem Neapel-Essay bereits 1925 ein Gegenmodell zum hermetisch Geschlossenen entworfen: Architektur, die in Zwischenräumen lebt, ein Leben, das nicht auf Eindeutigkeit besteht. Genau hier setzt das Festival an – nicht als Hommage an Benjamin, sondern als Weiterführung seines Denkens in einen literarischen Möglichkeitsraum, der den Riss nicht glättet, sondern ausstellt.
Die eingeladenen Autorinnen und Autoren – von Slata Roschal bis Temye Tesfu, von Shida Bazyar bis Hengameh Yaghoobifarah – stehen exemplarisch für ein Schreiben, das sich nicht in konventionellen Formzusammenhängen erschöpft. Ihre Texte, teils eigens für das Festival verfasst, loten aus, wie sich Gegenwart beschreiben lässt, wenn ihre Konturen verschwimmen: durchlässig, widersprüchlich, fragmentarisch.

Literarische Topographien der Gegenwart

An fünf Abenden werden jeweils vier Autor:innen lesen, begleitet von After-Hour-DJs und einem open-air Setting im Innenhof des Brecht-Hauses – sofern das Wetter mitspielt. Die Themen changieren zwischen Identität und Entgrenzung, Trauma und Humor, Intimität und politischer Geste. Auffällig ist die kuratorische Entscheidung für eine Mischung aus etablierten Stimmen wie Olivia Wenzel oder Thomas Köck und jüngeren, genreübergreifend arbeitenden Autor:innen wie Duygu Ağal oder Anna Julian Mendlik.
Den Auftakt am 25. August bestreiten unter anderem Slata Roschal, die mit Lyrik und Prosa zwischen Herkunft und Entortung arbeitet, und Antonia Baum, die mit „Sigfried“ zuletzt eine kluge Meditation über Männlichkeitsbilder vorgelegt hat. Ihnen zur Seite: Olivia Wenzel und Roman Ehrlich, beide bekannt für Texte, die die psychologischen Verwerfungen ihrer Figuren zugleich mit gesellschaftlichen Bruchlinien verschränken.

Zwischen Kollektiv und Einzelstimme

In den folgenden Tagen liest u. a. María Cecilia Barbetta, deren Schreiben oft den Vorabend politischer Umbrüche in leise epische Texturen übersetzt. Auch Jovana Reisinger, die ihre Romane ebenso selbstverständlich für das Theater wie für den Modediskurs denkt, wird ihre Stimme erheben – neben der bosnischkroatischen Essayistin Asja Bakić, die dem Feminismus mit popkultureller Präzision neue Schlagkraft verleiht.
Spätestens mit Auftritten von Autor:innen wie Temye Tesfu oder Hengameh Yaghoobifarah wird deutlich: Dieses Festival ist nicht bloß eine literarische Versammlung, sondern ein Experimentierfeld für hybride Textformen und multiperspektivische Gegenwartsdiagnosen. Die eingeladenen Stimmen ringen nicht um Repräsentation, sondern um Resonanz.

Bücher zum Mitnehmen, und unglaublich gute Texte

Zu jeder Lesung gibt es ein Booklet mit den Texten zum Mitnehmen – ein feiner Zug, der das ephemere Moment der Performance mit der materiellen Dauer des Gedruckten verbindet. Während auf den Bühnen zwischen erzählerischer Geste und essayistischer Präzision balanciert wird, fächert sich im Publikum eine diskursive Landschaft auf, die in ihrer Offenheit dem Festivalthema durchaus gerecht wird.
Wer sich durch die Abende treiben lässt, wird feststellen: Porosität ist keine Schwäche, sondern eine Haltung. Eine, die sich dem eindeutigen Urteil verweigert, weil sie weiß, dass in der Vieldeutigkeit die produktivere Erkenntnis liegt.

Ein Festival der Zwischenräume

„Poröse Gegenwarten, poröse Texte“ ist weniger ein Festival im klassischen Sinne als vielmehr ein literarisches Labor, in dem der Bruch nicht geflickt, sondern gelesen wird. Es geht hier nicht um Eindeutigkeit, nicht um Lösungsvorschläge oder gar Harmonie – sondern um das produktive Potenzial der Unschärfe. Wer Lesungen als diskursive Orte begreift und Literatur als Versuch, das Ungefähre sprechbar zu machen, wird sich hier gut aufgehoben fühlen.


Tickets

Hier sind die Tickets zu bestellen: https://tickets.lfbrecht.de/produkte

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