Es beginnt in Berlin, wo die Nächte länger sind als die Perspektiven. Nila Haddadi, neunzehn, Tochter afghanischer Geflüchteter, bewegt sich durch das urbane Flimmern einer Stadt, in der Herkunft oft ein Stigma und Begehren ein Minenfeld ist. In Aria Abers Debütroman Good Girl verliert sich Nila im Takt der Clubs und der Sehnsucht nach Entgrenzung – und stellt damit Fragen, die so alt sind wie das Exil selbst, aber hier in neuer Sprache gestellt werden.
Wer darf verschwinden? Wer wird gesehen? Und was bleibt übrig, wenn man die Geschichte abschneidet, aus der man stammt?
Plot ohne Pose – ein Nachtstück in Moll
Nila will vergessen – Herkunft, Elternhaus, vor allem die Scham, die mit beiden einhergeht. Sie will Berlin, Techno, Drogen. Statt Familie: fremde Körper. Statt Geborgenheit: Chemie. In diesem exzessiven Versuch, sich neu zu erfinden, begegnet sie Marlowe Woods, einem älteren, intellektuell saturierten amerikanischen Schriftsteller, der so viel Welt auf dem Buckel hat, dass man nicht mehr weiß, wo sie anfängt und wo sie endet. Ihre Beziehung: kein Safe Space, sondern ein semantisches Ringen um Macht, Begehren und Selbstbehauptung.
Aber Good Girl erzählt nicht nur von einer toxischen Romanze. Es geht um den Blick auf den weiblichen Körper, wenn dieser nicht als Normkörper gedacht ist. Um kulturelle Zuschreibungen, die nicht am Clubeingang enden. Und um Sprache als Ort der Verweigerung – oder Befreiung.
Diaspora ohne Pathos – das afghanische Erbe im Subtext
Was Good Girl besonders macht, ist, dass es nicht laut über Migration spricht – und gerade dadurch eindringlich wird. Die afghanische Diaspora bleibt in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine Leerstelle, oft nur sichtbar durch das Brennglas der Fluchterzählung oder das Vokabular der Integration. Aber wählt einen anderen Zugang: Sie schreibt nicht von außen über ein Kollektiv, sondern von innen über eine Einzelne. Nila ist keine Stimme ihrer Community – sie ist eine junge Frau, die sich zwischen den Trümmern ihrer Herkunft bewegt, ohne sie zu verklären oder zu verdammen.
In ihrer Sprachlosigkeit gegenüber der Mutter, im Gefühl der Fremdheit in der eigenen Geschichte, zeigt sich eine Form des kulturellen Erbes, das nicht durch Transmission, sondern durch Reibung weitergegeben wird. Das afghanische in Good Girl liegt nicht in dramatischen Rückblenden oder politischen Statements, sondern im Schweigen dazwischen. Und das macht es umso realer.
Zwischen Begehren und Beobachtung – das Politische im Privaten
Nila trägt einen Körper, den andere lesen wollen – als exotisch, als begehrenswert, als anders. Aber sie selbst liest ihn anders. Aria Aber zeichnet diese Spannung mit einer Schärfe, die wehtut, weil sie ohne didaktischen Zeigefinger auskommt. Der Körper wird hier zum Austragungsort widerstreitender Kräfte: Herkunft, Geschlecht, Erwartung, Scham.
Besonders eindrücklich ist, wie Aber das Spiel mit Nähe und Distanz erzählt. Nila ist nie ganz da, immer ein bisschen entrückt, eine Protagonistin, die sich der Identifikation entzieht, gerade weil sie sich selbst nicht greifen kann. Das ist stark – und schmerzhaft ehrlich.
Rhythmus mit Widerhaken – Sprache als Widerstand
Dass Aria Aber eigentlich Lyrikerin ist, merkt man sofort. Ihre Sprache ist rhythmisch ohne Rhythmuszwang, poetisch ohne Pathos, politisch ohne Parole. Sie lässt Sätze schwingen, aber nicht aus, Worte blitzen auf, aber nie um ihrer selbst willen. Wo andere Narrative konstruieren, dekonstruiert Aber Zuschreibungen, Erwartungen, auch Sprachgewohnheiten. Ihre Prosa ist kein Ornament, sondern Werkzeug. Und manchmal: Waffe.
Man liest, wie man lauscht – gespannt, wie lange der Satz noch trägt. Oft länger, als man denkt. Und dann: Bruch. Ein neuer Absatz. Ein anderes Licht.
Ein Roman mit Schattenkante – zwischen Identität und Inszenierung
Good Girl ist vieles: Coming-of-Age, Diaspora-Roman, toxische Liebesgeschichte, Clubnovelle, Sprachversuch. Aber vor allem ist es ein Buch mit Schattenkante. Nila wird keine Heldin, keine Projektionsfläche. Sie bleibt eine Suchende – manchmal mutig, oft müde, nie ganz bereit, sich den Anforderungen einer Gesellschaft zu beugen, die Diversität feiert, solange sie sich gut in Narrative verpacken lässt.
Aber stellt keine einfachen Fragen. Und gibt keine schnellen Antworten. Dafür webt sie ihre Themen – Herkunft, Exil, Gender, Begehren – so ineinander, dass sie nicht mehr trennbar sind. Ein Roman, der sich nicht linear lesen lässt, sondern kreisend, tastend, manchmal taumelnd.
Wucht in leiser Tonlage
Aria Abers Good Girl ist ein Buch, das sich nicht aufdrängt, aber bleibt. Es erzählt von Fremdheit im Eigenen, vom Wunsch, die eigene Geschichte umzuschreiben – und davon, dass auch das ein Privileg ist. Es ist klug, schön, unbequem. Und es bringt zum Leuchten, was sonst im Verborgenen bleibt.
Ein Roman, der den Begriff "feministisch" nicht als Etikett braucht, weil er ihn lebt – auf jeder Seite, in jeder Verwerfung. Und einer, der zeigt, dass Sprache nicht nur erzählen, sondern auch widerstehen kann.
Wer tanzt, entkommt nicht – Aria Abers Debütroman Good Girl erzählt von einer jungen Frau zwischen Berliner Clubnächten und afghanischem Erbe. Eine Geschichte über Körper, Herkunft und das Recht, sich selbst neu zu erfinden – poetisch, politisch und mit schmerzhaft klarem Blick.
Aria Aber – Stimme zwischen Sprachen
Aria Aber wurde 1991 in Deutschland als Tochter afghanischer Geflüchteter geboren und lebt heute in Los Angeles. Sie schreibt auf Englisch – aus Distanz zur deutschen Sprache und als künstlerische Wahl. Ihr Lyrikdebüt Hard Damagewurde mehrfach ausgezeichnet. Good Girl ist ihr erster Roman, ursprünglich auf Englisch verfasst und von ihr selbst ins Deutsche übertragen.
Abers Stil ist geprägt von poetischer Präzision und politischer Klarheit – eine Autorin zwischen Sprachen, Kulturen und literarischen Formen.
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