Der zweite Lesetag in Klagenfurt war geprägt von ernsten Themen, großen Ambitionen – und sprachlichen Unebenheiten. Was die Texte verbindet, ist eine spürbare Dringlichkeit: Es geht um Gewalt, Ausgrenzung, Erinnerung, Zugehörigkeit. Es geht um das Ich in der Geschichte, um Körper, Herkunft, Sichtbarkeit. Doch nicht alle Texte finden eine Form, die dem Gehalt standhält. Viel Haltung, ja – aber oft nur mäßig durchkomponierter Stil.
Natascha Gangl verwandelt in DA STA Sprache in Klangarchiv – radikal, spröde, eindrucksvoll. Sophie Sumburane schreibt mit Sickergrubenblau einen Monolog ohne Stimme, ein Fragment über das Unsagbare. Josefine Rieks liefert mit Dinner, Freitagabend einen Text, der so angepasst ist wie das Milieu, das er kritisiert – und genau dadurch funktioniert. Thomas Bissinger überformt in Nilpferd sein Thema mit derart viel Sprachakrobatik, dass der Text unter seinem eigenen Anspruch zu ächzen beginnt. Und Kay Matter erzählt mit Doppelzweier Leichtgewicht eine transbiografische Episode, deren Kraft im Stoff liegt – nicht in der Dramaturgie.
Ein Tag, der zeigt, dass Haltung allein nicht reicht – wenn der Text sich nicht traut, das Risiko sprachlicher Radikalität auch wirklich einzugehen.
Die Texte sind nachzulesen unter: https://bachmannpreis.orf.at/tags/texte2025/
und immer live dabei unter: https://www.3sat.de/kultur/tage-der-deutschsprachigen-literatur .
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Natascha Gangl: „DA STA“
Natascha Gangls „DA STA“ ist kein Text, den man liest. Es ist ein Text, der sich einem einhört. In den Dialekt, in die Landschaft, in die Bruchlinien der Erinnerung. Was als poetische Grenzvermessung beginnt – mit einem Satzfetzen wie aus der Dorfkneipe: „Wou g’heastn du hi?“ – entfaltet sich zu einem mäandernden, radikal subjektiven Versuch, historische Gewalt, Sprachverlust und die Topographie der Verdrängung hörbar zu machen.
Gangl betreibt in „DA STA“ eine Art literarisch-akustische Archäologie. Sie tastet sich durch Sprachen, Mundarten, Namen, Steine, Erdschichten und Tonaufnahmen. Der Text setzt sich aus Stimmen, Geräuschen, Interviewfragmenten und lyrischen Verdichtungen zusammen, in denen jedes Satzzeichen ein Richtungswechsel sein kann. Es ist ein Text, der nicht erklärt, sondern tastet – so lange, bis die Worte auf Widerstand stoßen: auf Beton, auf Erinnerung, auf Geschichte.
Formal ist „DA STA“ eine Zumutung – und das ist unbedingt als Kompliment gemeint. Die Sprache verweigert sich der Norm, sie oszilliert zwischen Dokumentation und Dichtung, Dialekt und Standard, zwischen dem gesprochenen Satz und der grafischen Komposition auf der Seite. Wer hier klassischen Erzählfluss sucht, wird scheitern. Der Text fordert nicht nur ein Mitlesen, sondern ein Mitgehen, Mitlauschen, Mitverarbeiten. Und genau darin liegt seine Kraft.
Thematisch verbindet Gangl das persönlich Erlebte mit dem kollektiv Verdrängten: Sie folgt dem Rauschen eines Bachs, der einst Grenze war und am Grund ein Massengrab trägt. Sie spricht mit einem Mann, der ohne institutionellen Auftrag ein Mahnmal baut, 48 Steine für 48 Erschossene. Der Text wird zum Denkmal für die Spuren des Vergessens – und für jene, die sie hörbar machen wollen.
Sophie Sumburane: „Sickergrubenblau“
Sophie Sumburanes Text ist kein Monolog, keine Anklage, keine Geschichte im klassischen Sinn – er ist ein Erschütterungsprotokoll. In „Sickergrubenblau“ spricht eine junge Frau nach einem Übergriff, ohne es sagen zu können. Die Worte sind da, aber sie kreisen. Um die Flasche mit dem blauen Etikett. Um den Finger. Um das „plopp“. Sie will nicht sagen, was passiert ist – und sagt alles.
Formal ist der Text radikal subjektiv, perspektivisch verschoben und in seinem Rhythmus fragmentarisch – aber nicht beliebig. Es ist eine bewusst komponierte Verunsicherung. Der Text lässt seine Leserschaft in der gleichen Grauzone tappen, in der sich auch die Erzählerin bewegt: Erinnerung, Zweifel, Ekel, Selbstschutz. „Ich erinnere mich nicht“, sagt sie. Und: „Mein Körper tut’s.“
Der Text arbeitet mit Wiederholungen, mit Einschüben, mit dem Stakkato psychischer Selbstbeobachtung. Seine Kraft liegt nicht in poetischer Überhöhung, sondern in der Beharrlichkeit der Bilder. In der aufgerissenen Tapete. Im Blut am Finger. In der Gewalt, die sprachlich nicht festgenagelt, sondern in Bewegung gehalten wird – vielleicht, weil ein Stillstand zu viel wäre.
Sumburane schreibt in einem Stil, der sich konventioneller Form verweigert, weil diese Form selbst Teil des Problems wäre.
Josefine Rieks: Dinner, Freitagabend
Josefine Rieks: Dinner, Freitagabend ist entweder erschütternd banal – oder ein präziser, unbarmherziger Akt der Selbsterkenntnis über die Leere in jenen Kreisen, die sich für besonders bewusst, reflektiert und progressiv halten. Der Text zeigt ein Milieu, das sich in Achtsamkeit, Nachhaltigkeit und Körperoptimierung eingerichtet hat, ohne je zu bemerken, dass es sich dabei nur neu verpackt – und dabei keineswegs emanzipiert – hat. Es ist die Simulation von Individualität durch Kuratierung: DNA-Diagnosen, Superfoods, Designermöbel.
Josefine Rieks’ Text wirkt dabei wie eine ästhetisierte Reproduktion dieses Selbstbilds. Die Ironie bleibt brav, die Kritik leise, beinahe höflich. Und doch könnte genau darin seine Schärfe liegen: Er zeigt eine Gruppe, die sich im Vollzug ihrer eigenen Wokeness selbst musealisiert hat – angepasst bis in die Poren, stilisiert bis zur Bedeutungslosigkeit. „Woke, aber weich“, könnte man sagen – und am Ende doch völlig normiert.
Wenn der Text stark ist, dann nicht durch Satire im klassischen Sinn, sondern durch die kühle Genauigkeit, mit der er die Austauschbarkeit dieser vermeintlich individuellen Biografien offenlegt. Die Erkenntnis, dass sogar die DNA, das letzte Versprechen von Einzigartigkeit, zum Distinktionsmerkmal einer Gruppe wird, die nichts lieber tut, als sich wechselseitig in ihrer Besonderheit zu versichern – das ist der eigentliche Stachel dieses Textes.
Doch er sitzt tief im Samt. Denn wenn Rieks nicht mehr tut als beobachten, bleibt sie genau dort, wo ihre Figuren stehen: Teil eines Systems, das Differenz simuliert, um Konformität zu verbergen. Dinner, Freitagabend ist dann nicht literarische Subversion, sondern gut gestylte Kapitulation – an eine Gegenwart, die sich in Wohlfühlkritik erschöpft. Und das ist vielleicht die bitterste Pointe überhaupt.
Thomas Bissinger – Nilpferd
Ein Text wie unter Druck gesetzt – von Geschichte, Sprache, Bedeutungshunger. Thomas Bissinger erzählt das, was man nicht erzählen kann, mit aller Kraft des poetischen Apparats: zerhackte Sätze, verzogene Syntax, Neologismen, Lautmalerei, rhythmische Überladung. Galja, die jüdische Widerstandskämpferin, träumt sich durch Verhörzellen, Verlust, Verrat – begleitet von einem Nilpferd, das mal am Himmel treibt, mal Wände durchbricht, mal einfach bloß atmet.
Die Idee: stark. Der Zugriff: radikal. Die Umsetzung? Zunehmend selbstverliebt. Der Text will alles auf einmal: Form als Widerstand, Fantasie als Rettung, Sprache als Körper. Doch statt Gegenwart im historischen Stoff sichtbar zu machen, verliert sich Nilpferd zu oft in seiner eigenen Musikalität. Der Stil wird zur Rüstung, zur Geste. Wo Not und Angst wären, schieben sich Sound und Silbe dazwischen.
Man spürt: Hier hat jemand etwas zu sagen. Aber manchmal übertönt die Form den Inhalt, manchmal verdeckt das Nilpferd das, was wirklich auf dem Spiel steht. Ein Text, der imponieren will – und dabei vergisst, dass Zartheit nicht schwach ist. Nur manchmal zündet er wirklich – dann, wenn Galja nicht kämpft, sondern einfach atmet.
Kay Matter – Doppelzweier Leichtgewicht
Ein Transjunge in der U19, ein See, ein Probetraining. Kay Matter erzählt still, genau, ohne Pathos. Die Körpersprache stimmt, die Dialoge sitzen, der Ton ist kontrolliert. Aber der Text verlangt zu viel für das, was er stilistisch leistet.
Paolo ist erkennbar älter als die Gruppe, zu der er gehören will. Der Text spielt mit dieser Unwucht, ohne sie je zu thematisieren. Stattdessen reiht er Szenen aneinander: Busfahrt, Boot, Kraftraum. Kein Bogen, kein Konflikt, keine Auflösung – nur ein stilles Begehren nach Zugehörigkeit. Das reicht nicht.
Wenn das eine Geschichte über verspätete seelische Reife sein soll, über das Nachholen einer Jugend, die es nie gab, dann müsste der Text mehr riskieren. So bleibt er korrekt, kontrolliert – und in der Entscheidungslosigkeit stecken.
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