Gegen Kitsch, gegen Klischee Friedrich-Perthes-Preis für Denis Scheck: Ein Abend über Lesewut, Literatur und literarische Abrissarbeiten

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Denis Scheck Denis Scheck Von Elena Ternovaja - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

Erstmals hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels den Friedrich-Perthes-Preis vergeben – benannt nach einem Verleger, der früh die Notwendigkeit eines Urheberrechts erkannte und den Buchhandel als Rückgrat geistiger Arbeit verstand. Dass Denis Scheck nun als erster Preisträger ausgezeichnet wird, ist keine Anekdote, sondern ein Signal: für Literaturkritik mit Rückgrat, für Urteilskraft statt Gefälligkeit.

Scheck ist längst eine feste Größe in der Literaturvermittlung – als Moderator von „Druckfrisch“ (ARD), als Kulturredakteur beim Deutschlandfunk, als jemand, der die Pose der Beliebigkeit nie mit Haltung verwechselt hat. Der Börsenverein lobt seine „fundierte Kritik“ und seine „Lust am Debattieren“ – beides trifft zu, aber greift zu kurz. Scheck betreibt keine Literaturkritik, die sich als Servicestelle für Kaufempfehlungen versteht. Was er leistet, ist Abrissarbeit an Textsorten, die sich als Literatur verkleiden.

Lesewut als Widerstand

In seiner Dankesrede legt Scheck ein Wort frei, das den Ton der gesamten Veranstaltung prägt: Lesewut. Nicht als exzessive Lektürelust, sondern als Reibung zwischen Text und Realität. Lesen sei kein Rückzugsraum, sagt er, sondern eine Praxis, die Wut erzeugt – auf das, was ist, und auf das, was fehlt. Wer Dickens oder Morrison liest, könne schwerlich unpolitisch bleiben. Schecks Lesewut ist keine Metapher, sondern eine Haltung: gegen Resignation, gegen Bequemlichkeit, gegen das literarische Wegducken.

Lesen, so seine Diagnose, bedeutet nicht Wellness, sondern Widerstand – gegen das, was man sich abgewöhnt hat zu sehen. Gegen die „gebrechliche Einrichtung der Welt“. Es ist die Art von Wut, die in der Literatur entsteht – und nicht bei ihrer Rezeption aufhört.

Zwischen Bildungsabriss und Erinnerungskitsch

Dass diese Lesewut nicht im Textlichen bleibt, zeigt der zweite Teil seiner Rede: eine scharfe Analyse kultureller und politischer Verschiebungen. Ohne Pathos, aber mit präziser Wut benennt Scheck, was derzeit systematisch demontiert wird: Bildungseinrichtungen, Kultureinrichtungen, öffentliche Diskursräume. Was verschwindet, sei nicht nur Infrastruktur, sondern die Möglichkeit zur Unterscheidung.

Er spricht vom gezielten Schleifen kultureller Räume, von Hetzjagden auf dissidente Stimmen, vom Knechten jener, die sich dem Konformitätsdruck widersetzen. Vom Vertauschen von Opfern und Tätern, das längst zur Technik öffentlicher Erzählung geworden sei. Und vom Wiederaufleben mccarthyistischer Muster – nicht als historische Analogie, sondern als aktuelle Praxis.

Schecks Liste ist dabei mehr als ein Katalog des Ärgernisses. Sie ist eine Zustandsbeschreibung: Gesetze, deren Titel schon das Gegenteil von dem verkünden, was sie erreichen, „Gutes-Kita-Gesetz“ oder „The One, Big, Beautiful Bill“. Intellektuelle Hampelmänner mit Kettensägen, Memoiren von Scheinriesen, Verachtung für Kunst, die sich im institutionellen Rückbau manifestiert. Es ist eine Beschreibung mit Diagnosecharakter – und ohne Trost.

Drachenpornos vs. Kafka

Und dann ist da noch die Literatur. Scheck nimmt sich das derzeit wohl kommerziell erfolgreichste Segment vor: Romantasy, New Adult, Drachenliebe mit Heilsversprechen. Die Sätze, die er zitiert – „Du bist so verflucht feucht für mich“ – sollen keine Satire sein, sondern Realität auf den Bestsellerlisten. Was ihn daran stört, ist nicht das Genre, sondern das Muster: Klischeehaftigkeit im Serienformat, Anspruchslosigkeit als Verkaufsstrategie.

Er kontert mit einer Szene von Kafka. Ein Drache, der zu lang ist für die Tür, höflich, sarkastisch, wundgescheuert vom Ankommen. Es ist ein kurzer Text, aber einer, der zeigt, was Literatur kann, wenn sie sich nicht an Erwartungen anpasst, sondern sie zersetzt. Zwischen diesem Kafka-Text und der industriell gefertigten Erregungsliteratur klafft eine Leerstelle – dort, wo Kritik einsetzen müsste.

Kitsch, Klischee, poshlost

Die Gegner heißen für Scheck nicht Selfpublishing oder Genre, sondern Kitsch und Klischee. Die beiden bilden das eigentliche Zentrum seiner Kritik. Und er benennt sie mit einem Begriff, der kaum noch verwendet wird: poshlost – ein Wort aus dem Russischen, bei Nabokov mitgebracht in die Literatur des 20. Jahrhunderts. Es steht für: gefühlige Belanglosigkeit, pseudotiefe Posen, ästhetisches Blendwerk.

Schecks Kritik richtet sich nicht gegen einzelne Bücher, sondern gegen eine ästhetische Ökonomie, die das Erwartbare bevorzugt, weil es sich gut weiterverarbeiten lässt – in Debatten, in Hashtags, in Sentiment. Wenn ChatGPT ihm Vorschläge für eine Dankesrede macht – „Zwischen Klimaangst und Sprachverlust“ – sieht er darin nicht Fortschritt, sondern die Simulation von Relevanz. Das Vokabular des Wohlmeinenden als Beleg für den Verlust von Urteilskraft.

Kritik beginnt beim Benennen

Dass Scheck mit dem Friedrich-Perthes-Preis ausgezeichnet wurde, ist kein Konsensangebot. Es ist eine Entscheidung für das Auseinanderhalten – von Literatur und Unterhaltung, von Urteil und Applaus, von Wut und Pose. Scheck selbst formuliert es klar: Er sei kein Teil einer Alphabetisierungskampagne. Kritik beginne da, wo man sich weigert, jede Form von Schreiben mit Literatur zu verwechseln.

Wenn er am Ende von Meta spricht, von gestohlenen Büchern, von einem Geschäftsmodell, das Urheberrecht als Betriebsstörung betrachtet, dann ist das nicht bloß eine Fußnote. Es ist der Übergang von Lesewut zu Schreibwut – die Konsequenz aus dem, was zu oft folgenlos bleibt. Literatur als Praxis, Kritik als Widerstand, Lesewut als Haltung.


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