Wenn Denis Scheck am 25. Mai 2025 in einer neuen Folge von Druckfrisch auftritt, eröffnet er erneut ungewöhnliche Perspektiven auf Literatur, Kunst und Geschichte. Drei Werke stehen im Mittelpunkt dieser Sendung: ein atemberaubender Comic über NS-Raubkunst, ein faktenbasierter Roman über Thomas Manns frühe Jahre und ein wiederentdeckter russischer Klassiker.
Luz: Zwei weibliche Halbakte (Reprodukt Verlag, aus dem Französischen von Lilian Pithan)
Rénald Luzier – besser bekannt als Luz – entkam am 7. Januar 2015 nur durch Zufall dem Anschlag auf Charlie Hebdo. In seinem Buch Katharsis verarbeitete er die Ermordung seiner Kolleginnen und Kollegen – nun legt er ein Werk vor, das formal und inhaltlich einen ganz neuen Weg geht.
In Zwei weibliche Halbakte erzählt Luz die Geschichte des gleichnamigen Gemäldes von Otto Mueller – ein Werk, das 1919 entstand und von da an eine bewegte Reise durch die deutsche Geschichte antritt: von der Weimarer Republik über die Diffamierung als „entartete Kunst“ durch die Nationalsozialisten bis zur Wiederentdeckung in der Nachkriegszeit. Luz’ Comic verfolgt diese Reise aus der Perspektive des Bildes selbst. Es wandert durch Ateliers, Wohnzimmer, Lagerhallen und Städte, bis es schließlich im Museum Ludwig in Köln landet – als Objekt der Begierde, der Ideologie und der Erinnerung.
Heinrich Breloer: Ein tadelloses Glück (DVA)
Thomas Mann als Romanfigur – ein literarischer Balanceakt zwischen Faktentreue und Erzählkunst
Heinrich Breloer, vielfach ausgezeichnet und durch seine TV-Mehrteiler Die Manns und Buddenbrooks beinahe synonym mit der filmischen Darstellung deutscher Literaturgeschichte, legt nun einen "Sachroman" vor, der es in sich hat. In Ein tadelloses Glück erzählt er die Vorgeschichte zu jener Figur, die er wie kein Zweiter ins öffentliche Bewusstsein gerückt hat: Thomas Mann – ehrgeizig, widersprüchlich, verletzlich, getrieben.
Der Roman spielt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, einer Zeit des literarischen Aufbruchs und gesellschaftlichen Kalküls. Thomas Mann ist jung, hat mit den Buddenbrooks ersten Erfolg, aber ihm fehlt das gesellschaftliche Parkett, auf dem er sich dauerhaft etablieren könnte. Dass ihm seine Neigung zu Männern im Weg stehen könnte, ist ihm ebenso klar wie die Möglichkeit, diesen Makel – so sieht er es – durch eine strategische Heirat zu korrigieren. Als er Katia Pringsheim begegnet, die Tochter aus großbürgerlich-jüdischem Hause, erkennt er: Hier kreuzen sich Gefühl, Möglichkeit und gesellschaftlicher Anspruch. Doch der Weg zu ihr ist alles andere als sicher.
Breloer, der über Jahrzehnte hinweg Gespräche mit Zeitzeugen, Nachfahren und Experten geführt hat, lässt in seinem Roman die frühen Jahre des späteren Nobelpreisträgers mit einer lebendigen Dichte und psychologischen Genauigkeit auferstehen, wie sie im erzählenden Sachbuch selten zu finden ist. Dabei bleibt er nah an den historischen Quellen, verarbeitet sie aber mit der dramaturgischen Eleganz eines erfahrenen Erzählers.
Dass Ein tadelloses Glück zum 150. Geburtstag von Thomas Mann erscheint, ist kein Zufall. Es ist eine Hommage, ein Echo und zugleich eine kritische Neuvermessung des Mythos Thomas Mann. Florian Illies nennt den Roman „packend, ja tadellos“, Armin Mueller-Stahl spricht schlicht von einem „wunderbaren Buch“. Und Marcel Reich-Ranicki bezeichnete Breloers filmisches Werk einst als „Glanzstück“ und „Höhepunkt der deutschen Filmkunst“ – ein Urteil, das sich nun auch auf das Buch übertragen lässt.
Denis Schecks Empfehlung: Juri Felsen – Getäuscht (Kiepenheuer & Witsch, übersetzt von Rosemarie Tietze)
Literarische Schatzfunde sind die Archäologie des Buchmarkts – und Getäuscht von Juri Felsen ist zweifellos ein solcher Fund. 1930 erschien der Roman erstmals in einem russischen Exilverlag in Paris, geriet dann in Vergessenheit – bis jetzt. In der virtuosen Übersetzung von Rosemarie Tietze lässt sich ein Autor entdecken, der von Vladimir Nabokov bewundert wurde und stilistisch in einer Liga mit Marcel Proust spielt.
Der Roman kreist um die obsessive Liebe eines Ich-Erzählers zur schönen, unkonventionellen Ljolja – eine Beziehung, die mehr aus Sehnsucht und Projektion als aus Realität besteht. Felsen analysiert das Innenleben seines Helden mit einer sprachlichen Präzision, die geradezu sezierend wirkt: introspektiv, selbstquälerisch, manchmal erhaben, oft verzweifelt. Der Satz „Das Ende der Verzweiflung wird kommen […] einem dummen und bedauernswerten [Tod]“ ist nicht nur poetisch, sondern prophetisch: Juri Felsen selbst wurde 1943 in Auschwitz ermordet.
Mit Getäuscht wird ein verlorenes Kapitel russischer Exilliteratur geöffnet – ein Roman, der emotional und stilistisch so dicht ist, dass er sich nicht einfach lesen, sondern erleben lässt.
Bestsellerliste: Diesmal das Sachbuch im Visier
Und wie immer: Denis Scheck nimmt sich die Spiegel-Bestsellerliste vor – diesmal in der Kategorie Sachbuch. Mit gewohnt scharfem Blick und spitzer Zunge prüft er, was bleibt und was getrost wieder verschwinden darf.
Druckfrisch mit Denis Scheck
25. Mai 2025 | ARD |23:35 Uhr
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