Abiturienten an beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg sollen im kommenden Jahr den Roman "Tauben im Gras" von Wolfgang Koeppen als Pflichtlektüre lesen. Als die Ulmer Lehrerin Jasmin Blunt das Buch aufschlägt, ist sie geschockt ob der darin enthaltenen, rassistischen Äußerungen. Das baden-württembergische Kultusministerium lenkt nicht ein. Pflichtlektüre ist Pflichtlektüre; rassistische Äußerungen perfekt, um auf Rassismus aufmerksam zu machen. Nun hat Blunt beschlossen, vorerst nicht weiter zu unterrichten. Außerdem hat sie eine Petition gestartet.
Wenn es nach dem Literaturkritiker Marcel Reich Ranicki geht, ist Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras" der größte und wichtigste Roman deutscher Sprache nach 1945. Ranicki hatte wiederholt mit großer Bewunderung auf die Qualitäten des Buches hingewiesen, hatte sich, in mehrfacher Hinsicht, vehement für den Schriftsteller Koeppen eingesetzt, der sich von dem großen Literaturkritiker jedoch nicht so recht protegieren lassen wollte. Liest man Koeppens sprachgewaltigen Nachkriegsroman heute, so besteht - angesichts einzelner Umschreibungen und Bezeichnungen - die Gefahr, zu erschrecken. So jedenfalls erging es der Ulmer Deutsch- und Englischlehrerin Jasmin Blunt, die das Buch im kommenden Schuljahr als Pflichtlektüre mit ihren Schülerinnen und Schülern hätte behandeln müssen. Als die junge Lehrerin den Roman zu Vorbereitungszwecken zum ersten mal durchblätterte, erstarrte sie. Etwa einhundert Mal stieß sie auf das N-Wort - keine Fußnote, keine Erläuterungen.
Blunt, die selbst Rassismus erfahren hat, weist darauf hin, dass das N-Wort ein Ausdruck von Unterdrückung und Entmenschlichung ist. "Was man sich bewusst machen muss bei dem Thema ist, dass die Sprache tatsächlich den Rassismus transportiert - und zwar in meine Lebenswelt hinein.", so die Lehrerin. "Das ist ein brutaler Angriff auf meine Menschenwürde."
Kultusministerium besteht auf "Tauben im Gras" als Pflichtlektüre - und bringt suspekte Argumentation
Das baden-württembergische Kultusministerium verteidigt die Setzung des Romans als Pflichtlektüre damit, dass sich Schülerinnen und Schüler im Zuge ihres Abiturs mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen sollen. Daher sei der Roman - der außerdem zur bedeutenden, deutschen Nachkriegsliteratur zähle - für den Unterricht geeignet. Da sich das Buch darüber hinaus im öffentlichen Diskurs befinde (wo eigentlich?), könne man an seinem Beispiel jungen Menschen gut vermitteln, was Rassismus sei.
Das baden-württembergische Kultusministerium legitimiert rassistische Äußerung also damit, dass sie rassistisch sind und sagt: Den Rest müssen dann die Lehrkräfte übernehmen. Diese allerdings seien überhaupt nicht dafür ausgebildet, Rassismus in Literatur zu erkennen, sagt die Literaturprofessorin Magdalena Kießling von der Uni Paderborn. "Es gibt zu wenig Sensibilität dafür, was die Macht von Sprache ausmacht, und da werden Erfahrungsberichte zu wenig ernst genommen.", so Kießling. Abgesehen davon, seien die entsprechenden Konzepte für den Unterricht lang noch nicht ausgereift.
Lehrerin wirft vorerst hin
Jasmin Blunt hat nun beschlossen, ihren Job, in dem sie bereits seit 12 Jahren tätig ist, vorerst nicht weiter auszuüben. Koeppens Roman im Unterricht durchzunehmen, will sie sich nicht antun, weshalb sie für das kommenden Schuljahr einen Antrag auf Beurlaubung ohne Besoldung gestellt hat. Vom baden-württembergischen Kultusministerium fühlt sie sich allein gelassen.
Wolfgang Koeppen - "Tauben im Gras"
"Tauben im Gras" ist der erste Roman aus Wolfgang Koeppens "Trilogie des Scheiterns", die später mit den Büchern "Das Treibhaus" und "Der Tod in Rom" vervollständigt und geschlossen wurde. Das Buch erschien 1951 beim Suhrkamp Verlag. Koeppen Schilder hier einzelne Erzählsequenzen, die sich zunächst losgelöst voneinander ereignen. Im Laufe des Romans wird allerdings deutlich, dass es klare Verknüpfungen zwischen den einzelnen Strängen gibt. Geschildert wird der Nachkriegsalltag in einer Bayrischen Großstadt (sehr wahrscheinlich München). Unter den US-amerikanischen Besatzungskräfte befanden sich auch viele schwarze Soldaten. Rassistische Äußerungen waren an der Tagesordnung.
Topnews
Ein Geburtstagskind im November: Astrid Lindgren
Geburtstagskind im Oktober: Benno Pludra zum 100. Geburtstag
Das Geburtstagskind im September: Roald Dahl – Der Kinderschreck mit Engelszunge
Ein Geburtstagskind im August: Johann Wolfgang von Goethe
Hans Fallada – Chronist der kleinen Leute und der inneren Kämpfe
Ein Geburtstagskind im Juni: Bertha von Suttner – Die Unbequeme mit der Feder
Ein Geburtstagskind im Mai: Johannes R. Becher
Ein Geburtstagskind im April: Stefan Heym
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Schullektüre: Anna Seghers oder Wolfgang Koeppen?
"Winnetou ist kein Apache": Kann man Karl May heute noch bringen?
Wolfgang Koeppen: Der stille Chronist der deutschen Nachkriegsliteratur
Michel Houellebecq und die "Aufstachelung zum Hass"
Rassismus-Debatte um Winnetou-Bücher kurbelte Verkäufe an
Wolfgang Kubickis Erdogan-Äußerung rassistisch
Transphob? - J. K. Rowlings neuer Krimi ruft Kritiker auf den Plan
Eklat um Winnetou-Bücher: Karl-May-Experte spricht von Angst als Triebfeder
Sprachwissenschaftler schreiben Appell gegen das Gendern im ÖRR
Heinz Strunk: Geschrieben in 100 Sekunden
Woke Racism: Die "Schreckensherrschaft" des neuen Antirassismus
Aktuelles
Verwesung von Simon Beckett – Dartmoor, ein alter Fall und die Schuld, die nicht verwest
Jessica Ebenrecht: Solange wir lügen
Leichenblässe von Simon Beckett – Wenn die Toten reden und die Lebenden endlich zuhören
Kalte Asche von Simon Beckett – Eine Insel, ein Sturm, ein Körper, der zu schnell zu Staub wurde
Joëlle Amberg: Wieso
Katja Niemeyer: Vergangenes bleibt – in Wandlung
Jostein Gaarders: Das Weihnachtsgeheimnis
Juliane Müller: Eine WG mit der Trauer
Die Chemie des Todes von Simon Beckett– Wenn Stille lauter ist als ein Schrei
Katrin Pointner: Mein Land
Georgi Gospodinovs „Der Gärtner und der Tod“ ist Buch des Jahres der SWR Bestenliste
Die SWR Bestenliste als Resonanzraum – Zehn Texte über das, was bleibt
Knochenkälte von Simon Beckett – Winter, Stille, ein Skelett in den Wurzeln
Biss zum Ende der Nacht von Stephenie Meyer – Hochzeit, Blut, Gesetz: Der Schlussakkord mit Risiken und Nebenwirkungen
Astrid Lindgrens „Tomte Tummetott“ – Ein Weihnachtsbuch ohne Lametta
Rezensionen
Das gute Übel. Samanta Schweblins Erzählband als Zustand der Schwebe
Biss zum Abendrot von Stephenie Meyer – Heiratsantrag, Vampirarmee, Gewitter über Forks