Freitagnacht rezensierte FAS-Mann Maxim Biller Volker Weidermann, Christine Westermann und Ursula März an die Wand. Die besten Momente der ZDF-Sendung im Protokoll. Update 9. 11.: Jetzt mit Video!
"Das Literarische Quartett" läuft sich richtig warm. Am Freitag hatten Volker Weidermann (Spiegel), Maxim Biller (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) und Christine Westermann ("Zimmer frei") die Autorin und Zeit-Kritikerin Ursula März zum Disput über drei neue und ein klassisches Buch geladen.
Maxim Biller: "Zeruya Shalev macht aus einem Bombenanschlag eine Soap"
Das ruft allerdings Maxim Biller auf den Plan, noch bevor Westermann ihr Plädoyer für Shalev beginnen kann. Für ihn ist "Schmerz" ein Beweis dafür, dass es nicht reiche wie Zeruya Shalev einen Bombenanschlag zu überleben, um ein großer Autor zu werden.
"Aus einem existenziellen Erlebnis, das sie hat, macht sie eine Soap, einen Sat 1 Film-Film", kritisiert Biller.
"Ich finde, das es unglaublich ungestüm, lebendig und lebhaft geschrieben ist", hält Westermann dagegen, die aber auch einräumt, dass die Erzählung bisweilen knapp am Kitsch vorbei schrammt. "Was ich aber richtig toll finde, wie sie es schafft, über die verschiedenen Formen von Schmerz zu schreiben. Hier geht es nicht nur um die physischen Schmerzen, sondern auch um den Schmerz des Bedauerns, dass man nicht das Leben gelebt hat, das man sich erhofft hat."
Ursula März gesteht Zeruya Shalev zu, "eine Könnerin der emotionalen Darstellung" zu sein, aber das Thema der Autorin sei aufgrund der steten Wiederholung langweilig geworden. Kritik übt März am Handwerk der Israelin und spoilert damit unglücklicherweise die Handlung.
"Gegen Ende des Buches beginnt ein absolutes Holterdipolter", schimpft Ursula März. "Das würde man keinem Autor eines drittklassigen Drehbuchs durchgehen lassen!"
Unwidersprochen bleibt, dass Zeruya Shalev einem ihrer Romane erstmals mit der Einbindung eines palästinensischen Bombenanschlages eine politische Dimension verleiht und damit Risiken in Kauf nimmt.
"Sie lädt sich da etwas auf, mit dem sie nicht zurecht kommt", findet Ursula März.
Maxim Biller versäumt abschließend nicht, auf die Unerträglichkeit der Sex-Szenen hinzuweisen und verleiht dem Werk der Israelin unter dem Gelächter des Publikums den "Bad Sex Award".
Volker Weidermann: "Die Manns waren immer online"
Volker Weidermann attestiert "Die Manns" eine neue Perspektive auf die bereits unzählige Male beschriebene Schriftstellerfamilie durch eine "unglaubliche Fülle an neuem Material". Trotz aller bekannten Psychosen und Familienproblemen seien die Manns eine moderne Familie gewesen, die "immer online waren und immer alles sofort veröffentlichen mussten."
Christine Westermann hat die Biografie wie einen Roman gelesen und genossen, da er nicht Thomas Mann räumlich im Buch dominieren lässt, sondern halbwegs paritätisch alle acht Familienmitglieder beschreibt.
Ursula März hingegen glaubt über die Manns bereits mehr zu wissen als über ihre eigene Familie und sieht nach der Lektüre keinen Erkenntnisgewinn. Zum Glück hat Maxim Biller ohnehin etwas gegen Thomas Mann und würzt so die Runde.
Auch er vermisst neue Erkenntnisse. "Heute Nobelpreis, morgen kein Stuhlgang, übermorgen Nazis an der Macht und dann wieder Schreibblockade", zählt Biller die Handlungsfolge auf. "Das Problem ist, es wird nicht reflektiert, es wird nicht analysiert."
Die Werke von Thomas Mann beschreibt Biller zum Vergnügen des Publikums als "parfümierte, wortreiche, handlungsarme Ideenromane, die deswegen von den Deutschen geliebt werden, weil er genauso ein Heuchler war wie sie selbst." Biller brilliert halt immer, wenn er sich in intellektuelle Rage redet.
Volker Weidermann grinst: "Ich glaube, dafür sind Sie nur in die Sendung gekommen, um sich darüber vor einem großen Publikum in Wut reden zu können."
Ursula März: "Das fahle Pferd ist pseudo-philosophisches Geschwafel"
Boris Sawinkows bereits 1908 verfasster Terror-Roman "Das fahle Pferd" ist das Buch, das Maxim Biller in diesem Monat selbst lobt. Das Werk ist von einem verfasst, der sich im Thema auskennt. Sawinkow hatte sich an zahlreichen Attentaten gegen das zaristische Regime beteiligt und war nur knapp einem Todesurteil durch Flucht entkommen. Im Roman beschreibt er die Vorbereitungen eines Anschlages auf den Fürsten Sergej, den Gouverneur von Moskau.
"Man muss sich den Roman von der Sprache und der Modernität her so vorstellen, als hätte Hemingway 20 Jahre vor `Fiesta´ einen Roman über die russische Revolution geschrieben", preist Biller seinen Mandanten an. "Es ist sprachlich so knapp, so lakonisch, hard boiled Dialoge, es ist so schnell, es ist so komplex."
Insbesondere hat es Biller die Authentizität angetan.
Das provoziert eine Breitseite von Ursula März. "Ehrlichkeit ist das letzte Wort, das ich auf diesen Roman anwenden würde", sagt die Zeit-Kritikerin. "Wenn Andreas Baader einen Roman geschrieben hätte, wäre der garantiert auch nicht ehrlich. Was wir hier sehen, ist der erste Typus des modernen Terroristen, der wirklich Mordunternehmer ist. Es ist eine Vorfigur eines Carlos. Was er sich darüber hinaus ausdenkt, ist zum großen Teil pseudo-philosophisches Geschwafel, und das ist so interessant, weil es prototypisch für den modernen Terroristen ist."
Selbst in dem recht harten thematischen Umfeld, werfen auch hier Volker Weidermann und Christine Kaufmann dem Autor Trivialität vor, sowie der Held sich in die Bombenbauerin verliebt. Volker Weidermann: "Das ist abgrundtief verkitscht bis in die Naturbeschreibung hinein, im Kontrast mit der vorher beschriebenen harten Wirklichkeit literarisch misslungen."
Maxim Biller ist natürlich spätestens jetzt klar, dass Volker Weidermann diesen bewusst eingesetzten Kontrast in "Das fahle Pferd" überhaupt nicht verstanden hat.
Auch Kaufmann stört sich am Kitsch, findet Boris Sawinkows Sprache aber eindrucksvoll. Ihre Lieblingsstelle aus dem Buch: "Heute ist der 1. Mai, das Fest der Arbeiterschaft. Ich liebe diesen Tag. Er ist voll Licht und Freude. Am allerliebsten würde ich heute den Generalgouverneur umbringen."
Maxim Biller: "Alles zählt ist Lebens-Porno im positiven Sinn"
Verena Luekens Krebs-Drama "Alles zählt" ist Ursula März ans Herz gewachsen. Es geht um eine Korrespondentin in New York, der zum dritten Mal Lungenkrebs diagnostiziert wird.
"Sie erzählt davon einigermaßen nüchtern, sie ist eine unsentimentale Person", die ihr Leben sammle, an Filme und Bücher und an Erlebnisse ihrer Kindheit denke, erklärt März. Sie ziehe aber nicht aus, um vor ihrem Tod noch bestimmte Dinge zu erleben.
Schließlich entschließt sich die Heldin, trotz der Schmerzen auf Morphium zu verzichten.
"Einer erdrückend moderne Frau", urteilt Ursula März. Sie zieht daraus die Botschaft, dass Leben nicht in der Erreichung bestimmter Ziele besteht, sondern dass Leben Teilhabe bedeutet.
Maxim Biller findet´s auch gut und entsprechende Worte, um es publikumswirksam zu verpacken. Die detaillierte Beschreibung der Erkrankung veranlasst des FAS-Mann, das Buch als "Krebs-, Krankheits- und Lebens-Porno" zu bezeichnen - "im positiven Sinne", fügt Biller zum Glück noch an.
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