Wut is Trumpf Hörbücher, Hörspiele, Podcasts: Die Schmiermittel der unmündigen Gesellschaft

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Laut einer Umfrage greifen immer mehr Nutzerinnen und Nutzer auf Hörbücher, Hörspiele und Podcasts zurück, um während der Corona-Krise ihren Alltag zu meistern. Steckt hinter dem neuen Zeitvertreib Bildungs- und Informationslust, oder doch nur die Angst davor, sich selbst zu befragen?

Was hören Sie? Ich höre Gejammer. Foto: Pixabay

Geradeso hatte man in der Vergangenheit den Weg zur Arbeit hinter sich bringen können. Geradeso; und nur mit dem Handy im Anschlag, sekündlich bereit, sich von Jenen ablenken zu lassen, die mit der Ablenkung Anderer ihr Geld verdienen. Denn die furchtbarsten Sekunden des 21. Jahrhunderts sind doch die wenigen ruhigen, die einem die Möglichkeit zur Innenansicht quasi aufzwängen. Daher trachten wir auch förmlich danach, diese seltenen, ablenkungsarmen Augenblicke mit möglichst sensationellen Außeneinwirkungen zu füllen.

Dann kam Corona. Und aus einem verhältnismäßig kurzen Weg zur Arbeit wurde plötzlich ein ganzer Tag daheim. Und aus dem Tag wurden Wochen, schließlich Monate. Und bereits nach den ersten Minuten drängte sich die Frage auf: Wie soll ich meine Zeit nur "sinnvoll" füllen, wenn nicht damit, mich in den Dienst anderer zu stellen? Wie existieren, wenn hinter jeder Ecke plötzlich die Selbstbefragung lauert? Oliver Daniel, Chef von Audible- Deutschland, hat so etwas wie Antwort parat.

"Wir merken auch, dass sich gerade deutlich mehr Menschen für den kostenlosen Audible-Probemonat entscheiden als vor Corona. Das ist übrigens eine große Chance für die ganze Branche, weil wir derzeit viele neue Hörerinnen und Hörer erreichen - und jetzt liegt es an uns allen, sie mit den besten Geschichten zu halten und zu regelmäßigen Hörern zu machen."

Die elenden Tage füllen

Was in den ersten Absätzen dieses Artikels zynisch anklingt, entspricht leider oft der Realität. Es ist das alte, oft verarbeitete Material vieler Dystopien: abhängig und unmündig gemachte Menschen, die aufgrund ihrer Unmündigkeit von selbst danach verlangen, tiefer in ihre Abhängigkeit hineingezogen zu werden. Es ist aber auch - und ja, auch das ist nicht neu - eine ideale Beschreibung westeuropäischer Konsumgesellschaften.

Rund 1 Millionen Menschen haben laut einer Umfrage während der Corona-Krise zum ersten Mal Hörbücher, Hörspiele und Podcasts ausprobiert. Der Verkauf von "handfesten" Büchern hingegen, fiel ab. Buchhandlungen und Verlage mussten, insbesondere im Bereich der Belletristik, ab März harte Rückschläge hinnehmen. Eine Entwicklung, die sich bereits vor Corona anbahnte. Denn die elenden Tage füllt man am besten nebenher.

Hörbücher, Hörspiele, Podcasts,

das sind das Schmiermittel einer unmündigen Gesellschaft. Funktionieren sie doch oftmals völlig anders, als von den entsprechenden Plattformen angepriesen. Nämlich in der Tat als Schmiermittel, als Überbrückungs-Element zwischen geliebten Arbeitsalltag und Streaming-Abend zuhause auf der Couch. Als ein Zwischen-Konsumieren, perfekt darauf ausgelegt, die Nutzer zu unterfordern und ihnen eine Art Macht über den kulturellen Gegenstand zu verleihen. Die langweiligen Passagen eines Hörbuches zu überspringen, verlangt einem ja nicht einmal ein Umblättern ab. Eine seichte Beschallung, eine Welt, die parallel zur eigenen erzählt und gestaltet wird, während man sich weder voll und ganz auf die eine, noch auf die andere konzentrieren kann oder gar muss.

"Wir beobachten einen Beliebtheitswandel bei den Genres: Business-Ratgeber, Karriere-Ratgeber und SciFi sind im Moment viel weniger gefragt als vorher. Dagegen Comedy und Hörbucher deutlich mehr..." erläutert Daniel von Audible. Natürlich, man will lachen. Und die Witze des Partners sind seit dreißig Jahren die selben. Und über die Arbeitsbedingungen bei Amazon macht man ja keine Witze. Und hoffentlich klappt das dann später wieder mit der Arbeit. Und Kinder machen wir keine, wegen dem Klimawandel und so, oder, ach weißte was... lass machen, wenn ich dich so ansehe wird mir klar, dass ich keine dreißig Jahre lang über deine Witze lachen werden kann, und dann brauch ich Ablenkung, und das wird ein Spaß mit den Kleinen...

Kaufen Sie Bücher. Lesen und denken Sie bewusst. Verzweifeln Sie. Werden Sie wütend. Nehmen Sie diese verdammten Stöpsel aus Ihren Ohren.

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