Laurent Mauvignier erhält den Prix Goncourt 2025 für seine stille, tiefgreifende Familiensaga „La maison vide“

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Es beginnt mit einer Kommode. Darin: Fotos mit ausgeschnittenen Gesichtern, vergilbte Briefe, von denen man nicht weiß, ob sie je gelesen wurden. Ein Légion-d’honneur-Orden, der von einem Helden kündet, dessen Geschichte niemand mehr erzählen will. In diesem stillen Archiv eröffnet Laurent Mauvignier seinen Roman La maison vide, für den er nun den Prix Goncourt 2025 erhält.

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La maison vide: Prix Goncourt 2025

Die Spurensuche im Stillen

Was Mauvignier hier entwirft, ist keine Familiensaga im klassischen Sinn. Es gibt keinen zentralen Helden, keine lineare Dramaturgie. Stattdessen folgen wir dem Erzähler durch ein Gewebe von Stimmen, Verschweigungen und brüchigen Erinnerungen. Fünf Generationen, von den napoleonischen Feldzügen bis zur Gegenwart, werden nicht erzählt, sondern erschlossen – wie eine Archäologie des Gedächtnisses, in der das Ausgegrabene ebenso wichtig ist wie das, was im Dunkeln bleibt.

Die Kommode ist nicht nur ein literarisches Symbol. Sie ist das epistemische Zentrum des Romans. Was in ihr liegt, liegt zugleich offen und verschlossen da – wie die Geschichte selbst, die sich nur in Fragmenten zeigt. Mauvignier nutzt diese Leerstelle nicht als Rätsel, das gelöst werden muss, sondern als Form: Das „leere Haus“ ist ein Speicher des Unausgesprochenen.

Sprache gegen das Verschwinden

Was diesen Roman so bemerkenswert macht, ist seine Art zu sprechen. Mauvigniers Sprache ist zurückgenommen, fast spröde, aber durchlässig für jede Nuance. Es sind Sätze, die nicht behaupten, sondern tasten. Die nicht erklären, sondern sichtbar machen, was zwischen den Worten liegt. Das Schweigen der Großmutter Jeanne-Marie, der zurückgekehrte Kriegsheimkehrer ohne Sprache, das ausradiert wirkende Gesicht eines Vaters – jedes Detail wird zur Andeutung einer größeren Bewegung.

Dabei zeigt Mauvignier: Erinnerung ist keine Heldenerzählung. Sie ist brüchig, parteiisch, oft verdrängt. Und sie ist geschlechtlich codiert – viele der Figuren, die schweigen, sind Frauen. Viele derer, die verdrängen, sind Männer. Der Roman folgt dieser Linie nicht als Anklage, sondern als präzise Beobachtung. Er zeigt, wie sich Trauma nicht nur in Körpern, sondern in Familienformen niederschlägt.

Die politische Dimension des Privaten

Was auf den ersten Blick wie eine intime Familiengeschichte erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als kluge Analyse gesellschaftlicher Prozesse. Mauvignier verknüpft private Erinnerung mit kollektiver Geschichte. Die Spuren der Kriege – ob 1870, 1914 oder 1940 – laufen nicht nur durch Archive, sondern durch Esszimmer, Dachböden, Kinderzimmer. Die Kolonialvergangenheit Frankreichs erscheint nicht als Exkurs, sondern als innere Logik familiärer Verdrängung.

In dieser Hinsicht ist La maison vide nicht nur Literatur, sondern ein Beitrag zur französischen Erinnerungskultur. Mauvignier stellt keine These auf, aber er lässt Strukturen sichtbar werden: die Verbindung zwischen Erzählverzicht und Schuld, zwischen Sprachverlust und Macht. Das macht den Roman auch für heutige Leser außerhalb Frankreichs relevant.

Preisvergabe mit Signalwirkung – und deutsche Perspektive

Dass die Académie Goncourt Mauvignier den diesjährigen Preis zusprach – und damit Emmanuel Carrère überging – ist nicht nur eine literarische Entscheidung. Es ist ein Zeichen: für eine Literatur, die nicht laut sein muss, um gehört zu werden. Die nicht Spektakel bietet, sondern Substanz. Und die zeigt, dass das Private politisch ist, selbst – oder gerade – wenn es um eine verstaubte Kommode geht.

Und auch im deutschsprachigen Raum wird La maison vide bald lesbar sein: Der Verlag Matthes & Seitz Berlin kündigte an, dass die Übersetzung durch Claudia Kalscheuer 2027 erscheinen wird. Damit setzt sich die Zusammenarbeit fort, die bereits mit Mauvigniers Roman Geschichten der Nacht begonnen hatte. Wer nicht so lange warten will, findet dort bereits eine eindrucksvolle Annäherung an Mauvigniers Stil.

Ein Haus voller Fragen

La maison vide ist ein Roman, der mehr fragt, als er beantwortet. Das ist seine Stärke. Es geht nicht darum, ein Familiengeheimnis zu lösen. Es geht darum, zu zeigen, dass Erinnerung ein offener Prozess ist – unvollständig, widersprüchlich, manchmal schmerzhaft. Wer das Buch liest, betritt ein Haus, das sich nicht abschließen lässt.

Der Leser wird zum Mitbewohner dieser Geschichte. Er steht vor derselben Kommode, hält dieselben Briefe in der Hand. Und wird – vielleicht – dazu angeregt, die eigene Familiengeschichte neu zu befragen: Was wurde erzählt? Was vergessen? Wer hat die Bilder gemacht, und wer wurde ausgeschnitten?

Am Ende bleibt ein Raum – leer, aber nicht bedeutungslos.


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