Eine Schriftstellerin, die ihr Auto mit warnblinkenden Lichtern abstellt, weil ein unerwarteter Anruf sie erreicht – so beginnt Dorothee Elmigers neuer Roman Die Holländerinnen. Schon in dieser ersten Szene steckt ein paradoxes Versprechen: das Banale des Straßenrands trifft auf den Abgrund, in den die Erzählerin gleich hineingezogen wird. Am Telefon ist ein gefeierter Theatermacher, der sie für ein Projekt gewinnen will, das in den Tropen angesiedelt ist. Wenige Wochen später verlässt die Erzählerin Europa, um sich der Theatergruppe in einem Urwald anzuschließen, wo ein Stück entsteht, das zugleich Rekonstruktion und Fiktion ist, Spurensuche und Abstieg.
Elmiger nimmt ihre Leser mit auf eine Expedition, die nicht wirklich an einem geografischen Ziel endet, sondern in einem Terrain der Sprache und der Bilder. Der Roman fragt, was geschieht, wenn die gewohnten Erzählmuster versagen und die „zivilisierte“ Bühne mit dem monströsen Dunkel der Welt kollidiert.
Expedition ins Ungewisse
Am Anfang steht ein realer Abgrund: 2014 verschwinden zwei niederländische Touristinnen im Dschungel Panamas, eine Suchaktion von historischer Dimension bleibt erfolglos, und bis heute weiß niemand, was genau geschah. Elmiger macht diese offene Wunde zum Zentrum ihres Romans – die beiden Frauen sind die titelgebenden „Holländerinnen“.
Erzählt wird das Ganze von einer Autorin ohne Namen, die sich als Chronistin einer Theatertruppe anschließt. Mit Schauspielerinnen, einem Dramaturgen, einer Kostümbildnerin und einem Kameramann zieht sie in den mittelamerikanischen Urwald, um die Spuren der Verschwundenen abzuschreiten. Angeführt werden sie von einem Theatermacher, einer Figur so selbstbesessen wie grotesk, der seine Mitstreiter mit Exkursen über Herzog und Benjamin in den Wahnsinn treibt. Er hat den Fall akribisch studiert, nun will er jede dokumentierte Wegbiegung nachstellen – koste es, was es wolle.
Doch je tiefer der Dschungel, desto größer wird die Angst. Die Natur wird vor allem nachts so laut und wild und so beginnen sich die Mitglieder der Truppe ihre eigenen Erlebnisse - ihr Leben zu erzählen. Harmlos beginnen diese Episoden, doch sie kippen ins Unheimliche – als spiegelten sie das Grauen des Urwalds in den Biografien der Figuren. Elmiger führt so vor, wie die äußere Bedrängnis den Blick nach innen öffnet.
Kosmopolitische Verwerfungen
Die Entscheidung, den Roman in die Tropen zu verlagern, ist nicht bloße Kulisse, sondern literarisches Statement. Seit jeher waren die Tropen ein Projektionsraum europäischer Fantasien – ob als Paradies oder als Ort des Schreckens. Elmiger knüpft hier an eine lange Tradition an, von Conrad bis Kracht, doch sie stellt keine Fortsetzung, sondern eine Konfrontation her.
Statt den Urwald zu exotisieren, legt sie frei, wie sehr europäische Narrative selbst in kolonialen Mustern verstrickt sind. Das Theaterstück, das im Dschungel entstehen soll, wird zum Symbol dieser Verstrickung: es will aufklären, rekonstruieren, erzählen – und scheitert doch daran, weil es die Gewalt, die es darstellen möchte, zugleich reproduziert.
Elmiger zeigt damit ein Paradox kosmopolitischer Kunst: die Sehnsucht nach universeller Erzählbarkeit kollidiert mit den blinden Flecken ihrer eigenen Herkunft. Wer erzählt? Für wen? Und mit welchem Recht?
Stil und Form
Elmiger knüpft stilistisch an ihre bisherigen Arbeiten an, indem sie Szenen bricht, Motive wiederholt und eine Sprache entfaltet, die sich konsequent gegen lineare Erzählmuster sperrt. Ihre Prosa wirkt verdichtet, manchmal fast musikalisch, und sie stellt eher neue Fragen auf, als dass sie Antworten gibt.
Gleichzeitig durchzieht den Text ein Geflecht von Anspielungen durch den schwurbelnden Theatermacher – auf Benjamin ebenso wie auf Adorno und Horkheimer, auf Theorien der Mimesis, auf Zeichendeutung und nicht zuletzt auf antike Stoffe. So verwandelt Elmiger ihren Roman in eine Bühne, auf der unterschiedliche Diskurse aus Kulturgeschichte und Philosophie aufeinanderprallen.
Gerade darin, dass die Erzählung keine eindeutige Form findet, liegt ihre Kraft. Die Holländerinnen macht spürbar, wie notwendig Geschichten sind – und wie verführerisch gefährlich sie werden, sobald sie zu glatt, zu simpel oder zu umfassend daherkommen.
Zwischen Literatur und Theater
Interessant ist, dass Elmiger den Theaterdiskurs so stark ins Zentrum rückt. Theater, als kollektive Kunstform, prallt hier auf den individuellen Erzähldrang der Schriftstellerin. Die Bühne wird zur Versuchsanordnung, zum Ort, an dem Sprache ihre Grenze findet.
Damit reagiert Elmiger auf eine Gegenwart, in der die Künste zunehmend global vernetzt sind und zugleich ihre eigenen kolonialen Schatten aufarbeiten müssen. Das Theaterprojekt im Urwald erinnert an reale interkulturelle Experimente, die immer auch die Gefahr des kulturellen Übergriffs in sich tragen. Elmiger macht daraus keine moralische Lektion, sondern eine beunruhigende Frage: Kann Kunst überhaupt unschuldig sein?
Wirkung und Bedeutung
Elmigers Roman fordert Konzentration, und er entfaltet seine Wirkung weniger durch Handlung als durch Atmosphäre. Die Leserinnen und Leser werden hineingezogen in eine Welt, die von Angst und Faszination gleichermaßen durchdrungen ist.
Wer Lust hat, die inneren Abgründe von Menschen auszuloten, ist hier genau richtig. Denn Die Holländerinnen führt nicht nur in einen undurchdringlichen Urwald, sondern auch in das Dunkel menschlicher Psyche – und lässt die Grenzen zwischen äußeren Gefahren und innerer Zerrissenheit verschwimmen.
Autorin Dorothee Elmiger
Dorothee Elmiger, 1985 in Wetzikon geboren, gehört seit ihrem Debüt Einladung an die Waghalsigen (2010) zu den eigenwilligsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ihre Bücher – zuletzt Aus der Zuckerfabrik – verbinden persönliche Erkundungen mit politischen und poetischen Fragen. Elmiger hat sich damit eine Position erarbeitet, die zugleich randständig und zentral ist: Sie schreibt jenseits des Markttauglichen, aber genau darin liegt ihre Relevanz.
Mit Die Holländerinnen führt sie ihre Arbeit konsequent fort: ein Roman, der die Grenzen von Erzählen, Theater und Erfahrung auslotet, der Kosmopolitisches und Intimes, Geschichte und Gegenwart miteinander verschränkt – und dabei zeigt, dass Literatur nicht Antworten liefert, sondern Räume öffnet, in denen die Unsicherheit selbst zum Erkenntnismoment wird.
Topnews
Geburtstagskind im Oktober: Benno Pludra zum 100. Geburtstag
Das Geburtstagskind im September: Roald Dahl – Der Kinderschreck mit Engelszunge
Ein Geburtstagskind im August: Johann Wolfgang von Goethe
Hans Fallada – Chronist der kleinen Leute und der inneren Kämpfe
Ein Geburtstagskind im Juni: Bertha von Suttner – Die Unbequeme mit der Feder
Ein Geburtstagskind im Mai: Johannes R. Becher
Ein Geburtstagskind im April: Stefan Heym
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Jenny Erpenbeck gewinnt Internationalen Booker-Preis 2024
Deutscher Buchpreis 2025: Dorothee Elmiger ausgezeichnet
Percival Everett – Dr. No
Die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2025 steht fest
Schweizer Buchpreis: Shortlist 2025
Michael Köhlmeier – Die Verdorbenen
Longlist Deutscher Buchpreis 2025 – Die Titel, Verlage, Kontext und Hintergründe
Almut Tina Schmidt mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet
Sebastian Haffner – Abschied
Annegret Liepolds Unter Grund bei ttt – titel, thesen, temperamente
Kurt Prödel: Klapper (park x ullstein, 2025)
Ein Buch, das uns lesen lässt, wie wir leben: „Wackelkontakt“ von Wolf Haas
Man kann auch in die Höhe fallen von Joachim Meyerhoff
Kerstin Hoppenhaus gewinnt NDR Sachbuchpreis 2024
„Verlorene Sterne“ von Tommy Orange: Eine Geschichte über Verlust, Identität und das Erbe der indigenen Bevölkerung
„Antichristie“ von Mithu Sanyal: Ein provokativer Roman über Glaube, Macht und Identität
Aktuelles
Maybe in Another Life von Taylor Jenkins Reid – Eine einzige Entscheidung, zwei Lebensläufe
„Die Leber wächst mit ihren Aufgaben – Komisches aus der Medizin“ von Eckart von Hirschhausen
Der große Sommer von Ewald Arenz– Ein Sommer, der vom Schwimmbad aus die Welt erklärt
John Irving – Königin Esther
„Holzfällen. Eine Erregung“ – Thomas Bernhard im Gespräch: Wolfgang M. Schmitt und Achim Truger im Literaturforum im Brecht-Haus
Paradise Garden von Elena Fischer– Sommer, Nudeln mit Ketchup und der Moment, der alles teilt
Gespenster denken nicht – Shakespeares Hamlet als Gedankenreise durch ein zersetztes Drama
Raphael Walder : ARACHNOPHOBIE
Tommy S.: Gebrochene Rippen.
Wieczorek Markus: Dankbarkeit
Heute findet in Leipzig der Fachtag „Schreiben und Erinnern“ statt
Matthias Aigner: Stiller Hafen
BookTok, Bücherclubs, Bibliotheken – wie sich die Lesekultur digital neu erfindet
Qwert von Walter Moers – Ritterrüstung, Dimensionsloch, Herzklopfen
The Gingerbread Bakery von Laurie Gilmore – Zimt in der Luft, Funkstille im Herzen
Rezensionen
Darm mit Charme von Giulia Enders – Ein Sachbuch, das den Bauch rehabilitiert
Wenn die Sonne untergeht von Florian Illies– Ein Sommer, der eine Familie und eine Epoche auf Kante näht
Apfelstrudel-Alibi (Rita Falk)– Eberhofer ermittelt zwischen Südtirol, Schnodder und Susi im Bürgermeisteramt
Muttertag von Nele Neuhaus – Ein Taunuskrimi über Mütter, Masken und die langen Schatten der 90er
Der Augensammler Sebastian Fitzek – 45 Stunden, ein Killer mit Ritual und zwei Ermittler, die ihre eigenen Geister kennen
Playlist von Sebastian Fitzek – 15 Songs, ein vermisstes Mädchen, ein Wettlauf gegen die Zeit
Rabenthron von Rebecca Gablé – Königin Emma, ein englischer Junge, ein dänischer Gefangener:
Hiobs Brüder von Rebecca Gablé – Die Anarchie, acht Ausgestoßene und die Frage
Das zweite Königreich von Rebecca Gablé – 1066, ein Dolch aus Worten und der Preis der Loyalität
Wedding People Alison Espach – Luxus-Hotel, Katastrophenwoche, zweite Chancen
Buckeye von Patrick Ryan – Ein kleiner Ort, zwei Familien, Jahrzehnte voller Nachhall
Nobody’s Girl von Virginia Roberts Giuffre – Wenn eine Stimme keine Bühne mehr braucht
50 Sätze, die das Leben leichter machen von Karin Kuschik– Kleine Sätze, große Hebel