Ein Kenner des postsowjetischen Raums erhält verdientermaßen den Friedenspreis – Karl Schlögel

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Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2025 geht an Karl Schlögel – einen Historiker, der nicht nur das östliche Europa lesbar gemacht hat, sondern es mit eigenwilliger Methode auf die gedankliche Landkarte eines westlich geprägten Lesepublikums rückte. Die Entscheidung wirkt überfällig und zeitgemäß zugleich, ein politisches Signal, das – bei aller inhaltlichen Richtigkeit – auch eine stille Frage hinterlässt: Muss Frieden immer so eindeutig markiert werden?

Karl Schlögel Karl Schlögel Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2025 geht an Karl Schlögel. Von Heike Huslage-Koch - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

Der Historiker als Flaneur – und Warner

Karl Schlögel, Jahrgang 1948, ist kein Schreibtischgelehrter. Seit den 1960er-Jahren erkundet er Städte und Räume Osteuropas mit forschendem Blick – Kyjiw und Odessa, Lwiw, Charkiw, Moskau und St. Petersburg hat er in Essays und Monografien vermessen, stets mit einem Gespür für Alltagskultur, für die unterirdischen Bewegungen politischer Umbrüche. Seine Methode: eine Verbindung von raumbezogener Geschichtsschreibung, subjektiver Wahrnehmung und literarischer Sprache.

Seit Moskau lesen (1984) baut er Erlebnisse in seine historische Arbeit ein, seziert das sowjetische Jahrhundert mit dem Instrumentarium des Erzählens – detailgenau, beobachtend, empathisch und nie ideologisch. Seine späteren Werke wie Terror und Traum, Das sowjetische Jahrhundert, Marjampole oder American Matrix verbinden Erkundung, Analyse und literarische Montage. Geschichte, so lautet sein Tenor, spielt sich nicht nur in der Zeit, sondern ebenso im Raum ab – und ist ohne die Erfahrungen der Einzelnen nicht zu fassen.

Ein Preis, der deutlich Stellung bezieht

Die Jury würdigt Schlögels Fähigkeit, „Beobachten, Empfinden und Verstehen“ zu verbinden. In der Tat: Seine Arbeit macht Vorurteile sichtbar, um sie zu korrigieren. Doch Schlögel schreibt nicht aus bloßer Forschungsperspektive. Er war frühzeitig ein öffentlicher Intellektueller mit Haltung – einer, der 2014 nach der Krim-Annexion in die Ukraine reiste, nicht um Thesen zu bestätigen, sondern um die Realität zu überprüfen. Aus dieser Erfahrung entstand Entscheidung in Kiew – ein Buch, das nüchtern erklärt, warum die Ukraine nicht nur geopolitisch, sondern zivilisatorisch verteidigt werden muss.

In Der Russland-Reflex kritisierte er gemeinsam mit Irina Scherbakowa die westliche Neigung zur Moskauer Erklärung. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs 2022 widerspricht Schlögel energisch der geschichtspolitischen Rhetorik des Kremls. Putin, so seine Diagnose, betreibe mit der Idee der „Russkij Mir“ – der „russischen Welt“ – ein imperiales Rückholprogramm, das nicht auf historischer Kontinuität beruht, sondern auf einem Vakuum an historischer Aufarbeitung.

Literatur, die nicht bloß benennt, sondern erinnert

Der Friedenspreis ehrt diese Arbeit nun – in einem Moment, in dem die Erinnerung an die Bedeutung osteuropäischer Geschichte politisch aufgeladen ist. Doch Schlögel lehrt keine Moral, sondern ein genaues Hinsehen. Seine Texte verankern Geschichte in Bildern, Geräuschen, Gerüchen – Der Duft der Imperien erzählt vom 20. Jahrhundert anhand zweier Parfums, „Rotes Moskau“ und „Chanel N°5“, als narrative Metapher geopolitischer Differenz.

Sein Blick gilt dabei nicht nur Russland, sondern den Spuren europäischer Geschichte auf den vergessenen Schauplätzen des Ostens: Bahnlinien, Märkte, Stadtviertel, Friedhöfe. In Grenzland Europa (2013) rückt er die Leistung der osteuropäischen Gesellschaften nach 1989 ins Zentrum, ohne sie zu idealisieren. Seine Arbeit ist politische Bildung – ohne pädagogischen Zeigefinger.

Friedenspreis oder Konfliktpreis?

Nach Anne Applebaum (2024) und Serhij Zhadan (2022) wird erneut ein Intellektueller geehrt, der mit großer Klarheit das ukrainisch-russische Spannungsfeld vermisst. Schlögel hat den Preis verdient – keine Frage. Aber vielleicht lohnt doch eine leise Nachfrage: Warum ist der Friedenspreis so regelmäßig mit geopolitischer Stellungnahme verbunden? Wäre es nicht denkbar, Frieden auch als Raum des Uneindeutigen zu würdigen – des Suchens, nicht nur des Markierens?

Die Paulskirche eignet sich gut für klare Sätze. Doch gerade Schlögels Werk zeigt, dass Ambivalenz kein Mangel ist, sondern Erkenntnismodus. Der Preis ehrt eine Stimme, die selten auf schnelle Antworten aus ist. Umso mehr wäre es angemessen, auch bei der Auszeichnung selbst Raum für Nachdenklichkeit zu lassen.


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