Mit einem Text, der sich nicht lesen, sondern hören lässt, hat die österreichische Autorin Natascha Gangl bei den 49. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt gleich doppelt überzeugt. Ihr Beitrag „DA STA“ wurde am Sonntag sowohl mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis als auch mit dem Publikumspreis der BKS Bank ausgezeichnet – eine seltene Übereinstimmung zwischen Jury und Öffentlichkeit. Gangl gelingt damit, was in der Geschichte des Wettbewerbs nicht oft vorgekommen ist: ein Doppelsieg, der ebenso formal radikal wie thematisch notwendig ist.
Natascha Gangl gewinnt Ingeborg-Bachmann-Preis 2025 – Ein Text, der sich einhört
Doppelsieg
„DA STA“ ist kein Prosatext im klassischen Sinn, keine Erzählung mit Spannungsbogen und Auflösung. Es ist ein sprachlich und akustisch aufgeladenes Gewebe, das sich um ein reales NS-Verbrechen in der Südoststeiermark entspinnt. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden dort 48 jüdische Zwangsarbeiter ermordet. Lange blieb das Massaker im lokalen Gedächtnis verschüttet. Ein einzelner Mann baute ohne offiziellen Auftrag ein Mahnmal: 48 Steine für 48 Erschossene. Um diese Geste des Erinnerns, aber auch um die Landschaft, das Schweigen und die Sprache webt Gangl ihren Text.
Die Jury war sich rasch einig. Jurorin Brigitte Schwens-Harrant, die Gangl eingeladen hatte, sprach in ihrer Laudatio von einem „unfassbar präzise gestalteten Text“. Ein Text, der nicht erklärt, sondern tastet. Der sich durch Sprachen, Erdschichten, Geräusche und Sprechweisen hindurcharbeitet – bis die Wörter auf Beton stoßen, auf Geschichte, auf Widerstand.
Eine Archäologie des Sprechens
Formal ist „DA STA“ alles andere als gefällig. Gangl oszilliert zwischen Dialekt und Hochsprache, zwischen lyrischer Verdichtung und dokumentarischer Fragmentierung. Der Text setzt sich aus Stimmen, Geräuschen, Interviewzitaten und grafischen Setzungen zusammen. Satzzeichen werden zu Richtungsänderungen, Absätze zu Atempausen im Sprachfluss. Diese Form ist nicht nur Ausdruck ästhetischer Entscheidung, sondern folgt inhaltlicher Notwendigkeit: Geschichte, die lange verschwiegen wurde, lässt sich nicht linear erzählen.
Gangl beschreibt keine Handlung – sie kartiert ein akustisches Gelände. Der Bach, der einst Grenze war, rauscht durch den Text wie ein schmaler Fluss des Vergessens. An seinem Grund liegt Geschichte, verborgen unter Schichten von Erde, Sprache und Schweigen. Wer diesen Text liest, muss sich darauf einlassen, ihn nicht zu durchdringen, sondern ihm zu folgen. Er ist keine Erklärung – er ist ein Widerhall.
Literatur zwischen Klang und Erinnerung
Natascha Gangl, geboren 1986 in Bad Radkersburg, ist nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Klangkünstlerin. Sie studierte Philosophie und Szenisches Schreiben, lebte in Spanien und Mexiko, bevor sie nach Wien zurückkehrte. Bekannt wurde sie für Theatertexte, Essays, Prosa und Hörstücke. Zusammen mit dem Duo Rdeča Raketa entwickelte sie den sogenannten „Klangcomic“ – ein Format, das Sprache, Sound und Performance zu einem eigenen Genre verbindet. „DA STA“ ist auch in dieser Tradition zu lesen: als performative Literatur, die nicht erzählt, sondern erfahrbar macht.
Gangl stellt nicht die Opfer ins Zentrum, sondern das Schweigen nach der Gewalt. Sie zeigt, wie Geschichte nicht verschwindet, sondern sich ablagert – in der Sprache, im Gelände, im Sprechen der Menschen. Der Text wird so selbst zum Denkmal: unfassbar in seiner Form, notwendig in seinem Ton.
Verstörung und Zustimmung
Dass ein Text wie „DA STA“ nicht nur von der Jury, sondern auch vom Publikum ausgezeichnet wurde, ist bemerkenswert. Die formale Strenge, das Fragmentarische, der Verzicht auf narrative Sicherheit – all das könnte als Zumutung empfunden werden. Doch gerade diese Zumutung macht die Qualität des Textes aus. Er verlangt etwas von seinen Leserinnen und Lesern. Er lässt sie nicht unberührt zurück.
Auch die Rezeption zeigt: Gangls Text trifft einen Nerv. In einer Zeit, in der historische Verantwortung erneut verhandelt wird, in der Erinnern zur politischen Geste wird, setzt „DA STA“ einen Kontrapunkt zur Eventisierung des Gedenkens. Es ist keine moralische Erzählung, sondern ein literarisches Lauschen an den Rändern der Geschichte.
Weitere Preise
Neben Gangl wurden bei den 49. Tagen der deutschsprachigen Literatur auch Boris Schumatsky (Deutschlandfunk-Preis), Nora Osagiobare (Kelag-Preis), Almut Tina Schmidt (3sat-Preis) und Tara Meister (Festivalschreiberin des Carinthischen Sommers) ausgezeichnet. Die Veranstaltung wurde wie jedes Jahr live auf 3sat übertragen und erreichte ein breites Publikum – auch über die Literaturszene hinaus. Die Lesungen, Diskussionen und Preisvergaben zeigten erneut, dass das sogenannte „Wettlesen“ keine Spielerei, sondern ein Ort ernsthafter, oft experimenteller Literatur ist.
Ein Preis für das Hören
Mit „DA STA“ hat Natascha Gangl nicht nur einen bemerkenswerten Text geschrieben, sondern eine Form gefunden, wie Literatur auf Gewalt, Schweigen und Erinnerung reagieren kann – nicht erklärend, sondern hörend. Dass dieser Text beide Hauptpreise gewann, ist nicht nur ein literarisches, sondern auch ein kulturpolitisches Signal: für eine Sprache, die nicht schließt, sondern öffnet.