Wer sich einmal im Monat die Mühe macht, das literarische Barometer der SWR Bestenliste zu studieren, entdeckt nicht nur, was Kritiker für lesenswert halten, sondern auch, wessen Bücher in diesem Moment durch die feinen Netze der Aufmerksamkeit dringen – oder eben gleiten. Im Juni 2025 zeigt das Thermometer ein paar klare Fieberkurven an, einige stille Dauerbrenner und eine bemerkenswerte Rückmeldung aus dem Schatten der Literaturgeschichte.
Die Top 3 der SWR Bestenliste Juni 2025
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Nell Zink:Sister Europe (Rowohlt)
Eine Nacht in einem Berliner Luxushotel, ein Panoptikum an Figuren – vom trans Kind eines Kunstkritikers bis zum arabischen Prinzen – und eine Autorin, die mit gnadenloser Ironie den gesellschaftlichen Firnis abträgt. Nell Zink zeigt sich hier auf dem Höhepunkt ihrer stilistischen Schärfe und Komik. Ihr Blick auf das heutige Deutschland ist ebenso realistisch wie bitterböse – ein literarisches Spiegelkabinett, das sich weigert, zu schmeicheln. -
Tarjei Vesaas: Frühlingsnacht (Guggolz Verlag)
Zwei Geschwister, eine abgeschiedene Nacht, und Fremde, die plötzlich vor der Tür stehen – aus dieser minimalistischen Konstellation entwickelt Vesaas ein poetisch verdichtetes Nachtstück. Was hier leise beginnt, endet in einer Verstörung, die nicht laut sein muss, um nachzuwirken. Der norwegische Altmeister zeigt, wie viel Dramatik in einem einzigen Raum liegen kann – wenn man bereit ist, die Sprache atmen zu lassen. -
Ralf Rothmann: Museum der Einsamkeit (Suhrkamp)
Neun Erzählungen, die von Verlorenen, Verletzten, Verstummten handeln – Rothmann bleibt seinem leise melodischen Realismus treu und findet immer wieder neue Tonlagen zwischen Zärtlichkeit und Trauer. Ob Großstadt oder Provinz, Soldatenschicksal oder Alltagsflucht – Rothmann gelingt es, seine Figuren mit Würde zu zeichnen, ohne sie zu verklären. Eine stille Elegie auf die existenzielle Vereinsamung unserer Gegenwart.
Dorfgeschichten, Frauenleben, digitale Utopien
Die Plätze vier bis zehn zeigen die stilistische Bandbreite des literarischen Frühsommers: Urszula Honeks Die weißen Nächte, ein erzählerisches Netz aus 13 Geschichten, verwebt das Leben in einem polnischen Dorf mit einer schwebend-realistischen Atmosphäre. Annett Gröschner liefert mit Schwebende Lasten ein weibliches Jahrhundertpanorama, das dort hinschaut, wo Geschichtsbücher meist schweigen. Esther Kinskys Gedichtband Heim.Statt bleibt dagegen ganz bei der Landschaft – und durchdringt sie doch mit historischen Schatten. Graham Swift liefert mit Nach dem Krieg gewohnt unaufgeregte Erzählungen, die auf Nachhall statt Drama setzen. Kathrin Bach blickt in Lebensversicherungauf ein Dorfleben voller Ängste in Versicherungssprache – nüchtern, genau, entlarvend.
Und dann wäre da noch Juan S. Guse mit Tausendmal so viel Geld wie jetzt. Ein Buch, das sich der großen Gegenwartserzählung der digitalen Utopien widmet – aber nicht mit dem erwartbaren Glanz. Die Männer – und es sind ausschließlich Männer –, die hier im Zentrum stehen, sind keine smarten Macher, keine glänzenden Selfmade-Millionäre, sondern eher verlorene Figuren, deren Glaube an Kryptowährungen mehr über soziale Sehnsüchte verrät als über technische Kompetenz. Guse interessiert sich für die Heilsversprechen, die hinter dieser Technologie stehen, für den Traum vom Klassensprung durch digitales Kapital – und stellt ganz nebenbei die Frage, die in der Euphorie meist untergeht: Warum sind das eigentlich alles Männer?
Julia Schröders Empfehlung: Ásta Sigurðardóttir
Doch eine Empfehlung kommt in diesem Monat nicht aus der Punkteliste, sondern aus dem Off der literarischen Gerechtigkeit: Julia Schröder, langjährige Kritikerin und Jury-Mitglied, hebt in der Rubrik Persönliche Empfehlung aus der Bestenliste-Jury eine Stimme hervor, die hierzulande lange fehlte – Ásta Sigurðardóttir. Die Isländerin, mit 41 Jahren verstorben, war eine schillernde Figur der literarischen Avantgarde Reykjavíks in der Nachkriegszeit – glamourös, antibürgerlich, verarmt. Ihr Leben: ein Roman; ihre Texte: scharfkantige Miniaturen eines weiblichen Existenzkampfs.
Streichhölzer, so der Titel der Sammlung, ist nun erstmals auf Deutsch im Guggolz Verlag erschienen – aus dem Isländischen übersetzt von Tina Flecken. Die 13 Erzählungen, oft aus weiblicher Perspektive, zeigen nicht nur eine Autorin von bemerkenswerter Direktheit, sondern auch eine frühe Stimme feministischer Literatur, die den Diskurs der Zeit um Jahrzehnte voraus war. In Island Schullektüre – in Deutschland nun, hoffentlich, mehr als nur ein Kritikerinnen-Tipp.
Hell brennende Vielfalt
Die SWR Bestenliste für Juni 2025 ist kein Ort der modischen Pose, sondern der literarischen Qualität – und ihrer vielen Gesichter. Ob Zinks bitterböse Hotelgesellschaft, Vesaas’ schlaflose Nacht oder Sigurðardóttirs lange übersehenes Feuer – die Liste ist ein Beweis dafür, dass gute Literatur sich nicht an Lautstärke misst, sondern an ihrer Widerstandskraft gegen das Vergessen.
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