Heinz Strunk - "Ein Sommer in Niendorf" Das romantische Bild eines untergehendes Mannes

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Heinz Strunks neuer Roman "Ein Sommer in Niendorf" zeugt abermals von Zerfall, Aufgabe und dem Scheitern des Individuums. Doch keiner Helden ist bisher so tief gefallen, wie der Wirtschaftsjurist Roth. Bild: Rowohlt Verlag

In seinem neuen Roman "Ein Sommer in Niendorf" setzt Heinz Strunk ein weiteres Mal auf eine abgestellte, bald schon zerfressene und an sich selbst scheiternde Männerfigur. Ein Mitte-Fünziger ist es in diesem Fall, der, so der anfängliche Plan, für drei arbeitsfreie Sommermonate nach Niendorf reist. Doch was als Erholungsversprechen beginnt, wird für den Wirtschaftsjuristen Roth zu einem regelrechten Abnutzungsmarathon. Eindringlich und überzeugend zeigt Strunk hier den seelischen und körperlichen Zerfall eines nicht bildungsfernen, promovierten Juristen; in einem sehr dunklen Blau.

Eines der mitunter wichtigsten und dringlichsten Thema der Literatur ist wohl das Scheitern vor uns an sich selbst. Abstürze und Untergänge kennen wir aus der Literaturgeschichte zu genüge: Dort haben wir es mit einem kläglichen Dahinsiechen, hier mit einem entschiedenen Abbruch zu tun; dort klingt vehementer Widerstand auf, hier zeugt eine längst eingekehrte Stille vom bereits erfolgten Niedergang. Es ist nicht allzu abwegig, die Qualität solcher Geschichten auch daran zu bemessen, wie überzeugend das Festhalten kurz vor der endgültigen Entkräftung, vor dem finalen Fall geschildert wird. Unter diesem Gesichtspunkt gelesen, ist Heinz Strunks Neuer Roman "Ein Sommer in Niendorf" ein Buch, das, im Vergleich zu seinen vorherigen Werken, eine doch enorme Fallhöhe aufzuweisen hat.

Ein Wirtschaftsjurist und ein Spirituosenladenbetreiber

Der promovierte Wirtschaftsjurist Roth reist für einen dreimonatigen Sommerurlaub nach Niendorf - ein Örtchen zwischen Travemünde und Timmendorfer Strand - um dort, bevor er eine neue Arbeit aufnehmen und sein bürgerliches, recht behagliches Leben weiterführen wird, die Tonbandaufnahmen seines verstorbenen Vaters auszuwerten. Roth schwebt eine Familiengeschichte vor, ein belletristisches Werk. Der kleinbürgerliche Rahmen, den sich Roth für sein Vorhaben gewählt hat, wird sich jedoch bald schon ausbreiten und den Juristen vollständig überschatten. Nicht nur das Roman-Projekt wird scheitert.

Kurz nach seiner Ankunft macht Roth Bekanntschaft mit dem Zimmerwirt Breda, der den Neuankömmling durchs "Ostsee-Appartment" führt. Breda, der hier als der geistige, moralische und auch klassenbezogene Gegenspieler Roths auftritt, verwaltet allerdings nicht nur Urlaubs-Zimmer, sondern ist darüber hinaus auch Spirituosenhändler, Strandkorbverleiher und, selbstverständlich, schwer alkoholabhängig. Eine beinahe mephistophelische Gestalt, die Roth überkommt, kaum mehr Ruhen lässt, ihn ständig drängt und adressiert und letztlich schließlich in den Abgrund ziehen wird. "Bredas Schatten verdunkelt ganz Niendorf" heißt es da an einer Stelle. Der Zimmerwirt schickt sogar merkwürdige Gute-Nacht-SMS.

Thomas Mann und die Gruppe 47

Wiederholt blitzen in die Geschichte eingeflochtene, leitfadenähnliche Literaturreferenzen auf. Thomas Mann wird des Öfteren belehnt; ebenso die Gruppe 47, deren legendärem Niendorfer Treffen im Mai 1952 eine Gedenktafel gewidmet ist. Diese Einlassungen sind unterschiedlich zu lesen. Die Gruppe-47-Referenzen erweisen sich, gerade in einem solch kleinbürgerlichen Rahmen - als ebenso amüsant wie rebellisch. Das Kleinbürgerliche vermengt sich mit dem Bildungsbürgerlichen auf komische Weise.

Die Thomas-Mann-Bezüge hingegen, sind auf den Stoff des Buches selbst gerichtet. Dass "Ein Sommer in Niendorf" nicht weit vom "Tod in Venedig" entfernt liegt, wird kaum zu übersehen sein. Das weiß nicht nur Heinz Strunk, sondern auch sein Protagonist Roth, der bereits kurz nach seiner Ankunft in Niendorf großschriftstellerische Anflüge hat.

War es bei Thomas Mann ein schöner Knabe, ist es bei Strunk eine junge Kellnerin, die "drall, dümmlich" und "unverschämt" daherkommt, was den Protagonisten zum Träumen verführt. Um Zerfall und Niedergang geht es sowohl in der Mann-Novelle wie auch im Strunk-Roman, wenn auch die Wege und Zwischenzeilen sich hier und dort freilich anders gestalten. Strunks Vorliebe für die Beschreibungen menschlichen Zerfalls, seine detailreichen Darstellungen von zergehenden, sich regelrecht auflösenden Körpern kennen wir bereits aus Romanen wie der Milieustudie "Der goldene Handschuh". Auch im "Sommer in Niendorf" werden wir mit Ausdünstungen aller Art konfrontiert. Der Unterschied ist jedoch, dass wir es bei Roth mit einer Figur zu tun haben, die als Eindringling in einem ihr völlig unbekannten Milieu handelt, sieht und zu verstehen versucht. Begriffe wie "Auflösung" und "Zerfall" sind daher stets doppeldeutig zu lesen. "Auflösung" bedeutet hier immer auch "Auflösung" des Bürgerlichen unter kleinbürgerlicher, geistloser Stumpfheit.

Ein romantisches Bild des Unterganges

Roths Untergang dürfen wir in vollen Zügen genießen. Nach und nach ergibt sich der Bildungsbürger dem Nicht-Nachdenken-Müssen; und mutiert somit in katastrophaler Weise zu einem zweiten Breda. Der Verlust der regulierenden Lohnarbeit führt zum vollständigen Kontrollverlust. Im "Stotterschritt" schiebt sich Roth dann über die menschenleere Promenade; und man das Bild eines sich den Sonnenuntergang tragenden, taumelnden, drahtigen Verwahrlosten vor Augen - Das romantische Bild eines untergehenden Mannes, der sich letztlich einrichtet zwischen Suff, geistlosen Gesprächen und Bredas Freundin Simone.


Heinz Strunk - "Ein Sommer in Niendorf"; Rowohlt 2022, 242 Seiten, 22 €

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