Mathias Enard - "Das Jahresbankett der Totengräber" Wiederbelebt, irgendwo in Europa

Vorlesen
Auf den Spuren von Lévi-Strauss: In seinem Roman "Das Jahresbankett der Totengräber" führt der Schriftsteller Mathias Enard durchs "wilde Denken". Selten war europäische Geschichte so wuchernd und spannend. Bild: Hanser Berlin

In seinem neuen Roman "Das Jahresbankett der Totengräber" stellt der französische Autor Mathias Enard die Provinz aus zweit grundverschiedenen Perspektiven dar. Was mit einem verklärenden, steifen Blick beginnt, endet in einer ausufernden Reise quer durch Europa, begleitet von Mythen und mystischen Überlieferungen. Stilistisch brillant erzählt, inhaltlich aufwühlend und hochaktuell.

Knapp 500 Einwohner zählt das Dorf La Pierre-Saint-Christoph im Département Deux-Sèvres. Hier hat sich der junge Pariser Anthropologe David Mason niedergelassen, um Material für seine Doktorarbeit zu sammeln. Seine Unterkunft, eine kleine Wohnung im Untergeschoss eines Bauernhauses, tauft er kurz nach seiner Ankunft auf den Namen "Das wilde Denken". Eine Bezeichnung, die auf den Ethnologen Claude Lévi-Strauss zurückgeht, der damit eine ganzheitliche, von magischen Zusammenhängenden durchzogene Denkweise "primitiver" Kulturen umschrieb. Mit dieser Ortsbenennung setzt der Autor Mathias Enard gleich zu Beginn seines Romans einen Anhaltspunkt dafür, was uns auf den folgenden knapp 500 Seiten erwartet: Ein Sammelsurium aus Legenden, mythischen Erzählungen und ausschweifenden, überlieferten Abenteuern.

Der zunächst noch mit einem recht fraglichen Selbstbewusstsein und einer zuweilen unausstehlichen Überheblichkeit auf die Provinz blickende Großstädter David, wird sich bald in den Geschichten der Dorfbewohner verfangen. Und auch die Leserinnen und Leser werden sich nur schwerlich aus den Fängen der hier aufgefahrenen Abenteuer befreien können.

Tagebuch als Einstieg

"Das Jahresbankett der Totengräber" beginnt mit Davids Tagebucheinträgen. Wir erfahren, wie und wo der junge Anthropologe untergebracht ist, bekommen Einblicke in seine Arbeitsplanung und Vorgehensweise. Insbesondere Interviewanfragen stehen auf dem Plan. Mit dem ersten Kontakt zu den Dorfbewohnern werden sogleich jene Protagonisten eingeführt, die uns später aus anderer Perspektive wiederbegegnen werden. Knoten- und gesellschaftlicher Treffpunkt ist dabei das "Anglercafé" des Dorfes. Hier lernen wir zunächst den Wirt Thomas und den Bürgermeister Martial kennen. Letzterer ist zugleich auch der Chef der örtlichen Totengräber. Davids Vermieter, Mathilde und Gary treten eher im Hintergrund auf, während der Künstler Max und die Marktbäuerin Lucie - der, wie wir früh merken, der Protagonist schnell etwas abgewinnen kann - selbstbewusst und laut aufschlagen. Mit diesem Tagebuch-Einstieg stellt Mathias Énard lediglich die Weichen für eine Reise, die in ein ethnologisches Labyrinth führt.

Wild, wuchernd

Bald schon wechselt die Erzählperspektive. Der Ich-Form entspringt ein auktorialer Erzähler, der anekdotisch durch die Geschichte der Provinz und zugleich immer tiefer in die mythischen und mystischen Abenteuer hineinführt, die außerhalb der Großstadt - und also fernab von festen, rationalen Erhebungen - die wildesten Denkgebäude entstehen lassen. Provinzielle Traditionen, Aberglaube und seit Jahrhunderten überlieferte Geschichten reihen sich aneinander, werden zunehmend verwoben und lassen so mosaikartig ein Gesamtbild entstehen, welches dem anfänglichen Blick des Großstädters diametral gegenübersteht. Es ist so, als würde der Pariser Anthropologe, der etwas süffisant für eine Feldstudien hier anreiste, von irrationaler Seite eines besseren belehrt. Ja, als übernehme das zu Studierende den studentischen Blick. Das Wilde wuchert, die Handlungen befallen die Motivation.

Die großen Geschichten beginnen, wo die Analyse endet

Dass das Irrationale, das wütende und getriebene Erzählen dem Rationalen und Analytischen gegenübergestellt wird, ist auch anhand des Stilwechsels nachzuvollziehen. So sind die volkstümlichen Geschichten brachial, zuweilen lapidar erzählt. In ihrer Konstrukt wuchern auch die Sätze, die immer länger, ungehaltener, gewissermaßen natürlicher werden. Und dieser stilistische Bruch ist keineswegs Zufall. Auch in den Anekdoten selbst finden wir die Verwandlung wieder; denn Menschen können - wie wir bald erfahren werden - in diesem Roman problemlos als Tiere wieder geboren werden, als Eber oder Wanze oder sonst was. Ein gestorbenes Tier wiederum, kann im Körper eines Menschen neu zum Leben erwecken. Mittels der Idee der Reinkarnation befreit sich der Autor hier von allen Grenzen. Grenzenlos wie die Phantasie seiner Dorfbewohner wenn es darum geht, folkloristische Geschichten in Umlauf zu bringen, schreibt und schreitet Mathias Enard voran.

Den Dorfpfarrer erkennen wir beispielsweise in einem Wildschwein wieder. Und auch die Schnecken im Bad des Anthropologen haben eine finstere, mörderische Vorgeschichte. Durch diesen Kunstgriff gelingt es Enard, quer durch die Jahrhunderte zu reisen, Epochen zu verbinden und tatsächlich ein Denken zu entfalten, welches außerhalb rationaler Erhebungen ungeheuerliche Konnexionen herbeiführen kann.

In all diesen Ausführungen blitzt und flackert zudem die europäische Geschichte im Lichte der Gegenwart. Selten wurde diese lebendiger verarbeitet. Die Pointe hinter Enards Geschichtswanderung, dass nichts voneinander losgelöst betrachten und beurteilt werden kann, ist dann auch wieder ein Ankommen bei Claude Lévi-Strauss, der in seinem "wildes Denken" unter anderem die Möglichkeit sah, "unter dem geringsten möglichen Verlust das andere in das unsere und umgekehrt zu übersetzen".


Mathias Enard: "Das Jahresbankett der Totengräber", aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller; Hanser Berlin; 2021; 480 Seiten; 26 Euro

Gefällt mir
1

Hier bestellen

 

Mehr zum Thema

Topnews

Aktuelles

Rezensionen