Zensur im Nachkriegsdeutschland Siegfried Lenz: Der Überläufer erst nach 65 Jahren veröffentlicht

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Als am 27. Februar 2016 dieses Jahres „Der Überläufer“ von Siegfried Lenz postum bei Hoffmann und Campe erschien, hat dieser Roman für viel Wirbel und Eindruck gesorgt. Lenz, ein bedeutender deutscher Nachkriegs- und Gegenwartsdichter (1926-2014), hat diesen Roman im Alter von 25 Jahren geschrieben und damit ein Werk geschaffen, das Einblick in eine wahnsinnig reife poetische Seele gibt. Lenz musste den Roman auf Verlangen seines Verlages mehrfach überabeiten. Am Ende verschwand er dennoch in der Schubladen und erschien nun mit 65 Jahren Verspätung.

Lenz schriebn den Roman „Der Überläufer“ bereits im Alter von 25 Jahren. Jetzt erst wurde das Buch veröffentlicht. Bundesarchiv

Zensur im Nachkriegsdeutschland

Der Lektor Görner lehnte in einem Gutachten für den Campe Verlag die Veröffentlichung ab. Er teilte dies in einem Brief an Lenz mit. Pikant daran ist, dass Görner selbst SS-Mitglied war und bei dem Nazi-Volkskundler André Jolles in Leipzig studiert hatte. Es war nicht vorstellbar, dass ein Roman über Fahnenflucht in der damaligen Gesellschaft Akzeptanz gefunden hätte. Das Thema Desertion hatte im Deutschland der Nachkriegszeit einen üblen Beigeschmack: Kriegsverräter, die während des Dritten Reiches hingerichtet wurden und auch Soldaten, die der Todesstrafe entkamen, wurden als Feiglinge tituliert und gelten erst seit dem 17.05. 2002 öffentlich rehabilitiert. Zum Glück ist die Gesellschaft inzwischen weiter, denn kurz nach Veröffentlichung des Romanes musste der Verlag bereits die dritte Auflage drucken lassen.

Siegfried Lenz erlebte den Krieg selbst als Soldat

Lenz war bei Kriegsende 19 Jahre alt und hatte das letzte Kriegsgeschehen, nach einem Notabitur 1944, bei der Kriegsmarine erlebt. Er desertierte am Ende des Krieges und geriet in britische Kriegsgefangenschaft. Anschließend begann er ein Studium, welches er abbrach. 1948 wurde er Volontär bei Die Welt. Schnell wurde er Feuilletonredakteur und war für die Fortsetzungsromane zuständig.1951 erschien sein Debütroman „Es waren Habichte in der Luft“ bei Hoffmann und Campe.

Der Soldat Walter Proska wird zum Überläufer

Die Handlung: „Der Überläufer“ ist ein zeitgenössischer Roman mit Rahmenhandlung. Ein 35 -Jähriger Mann, der Assistent Proksa, versucht bei einem schwerhörigem Apotheker eine Briefmarke zu leihen, um einen Brief an seine Schwester zu versenden. "Walter Proska, der Assistent, hörte plötzlich eine Lokomotive pfeifen." (Zitat Der Überläufer) : Es ist der letzte Kriegssommer. Der Soldat Walter Proska befindet sich auf dem Rückweg im Zug aus dem maurischen Lyck an die Ostfront. Er lernt im Zug ein nettes Mädchen kennen, dass sich im weiteren Verlauf als Partisanenanhängerin entpuppen wird und doch die Liebe verkörpert. Bei einer Minenexplosion im ukrainisch-weißrussischen Grenzgebiet landet Proska bei einer Einheit Wehrmachtssoldaten, die die Zuglinie sichern sollen. Diese Einheit ist ein recht skurril übrig gebliebener Rest von Soldaten , der im täglichen Überlebenskampf gegen die heimische Partisanen, die flirrende Hitze und die Mückenschwärme um das eigene Überleben kämpft.

Das Mädchen aus dem Zug, Wanda, taucht wieder auf. In einer bizarr schönen Nacht finden sie zueinander. Als Wanda ihm später berichtet, dass sie schwanger ist, verspricht er ihr, nach dem Krieg zu ihr zu kommen und bei ihr zu bleiben. Proska ist kein Systemgegner und stellt weder den Krieg noch das System in Frage- anders sein Kamerad Wolfgang. Dieser stellt die richtigen Fragen und Proska hört ihm zu. Doch selbst die Reden seines Kameraden lösen keine Reflektion und kein Umdenken in Proska aus. Doch die Liebe zum Leben und ein Funken Hoffnung auf eine Zukunft treiben ihn zum Uberlaufen. Schambeladen wechselt er mit seinem Kameraden Wolfgang die Seiten. Der Krieg endet für Proska nicht mit der deutschen Kriegsschuld, die Lenz bis zum Schluss nicht thematisiert sondern mit einer privaten Bürde, Proska ist Schuld am Tod seines Schwagers. Seine Schwester weiß nichts davon. Auch seine Liebe zu Wanda findet keine Erfüllung.

Der Krieg ist zu Ende und Proska ist in der sowjetischen Besatzungszone gelandet. Lenz gelang es hier mit einfachen Stilmitteln, den totalitären Überwachungsstaat zu skizzieren- in dem es normal ist, dass Menschen plötzlich spurlos verschwinden. Er flieht in den Westen. Der Rahmen des Romanes schließt sich, Proska gibt einen Brief an seine Schwester auf- sein Geständnis. Doch seine schwere Last wird nicht gelöst.

Siegfried Lenz brillierte schon in frühen Jahren

Lenz schöpfte in diesem Roman aus dem Vollen der Erzählkunst. Exakt und phantasievoll beschreibt er die einzelnen Charaktere mit allen ihren Macken und Ängsten. Er zeigt keine plumpen Mitläufer, es sind junge Männer mit Sorgen, Hoffnungen und Nöten. Lenz gestaltete die Figuren voll aus, bis hin zum passenden Dialekt oder Akzent. Mit einer teilweise zynischen Blickweise beschreibt er die Schrecken und verpasst es dabei nicht, humorvoll auf menschliche Irrungen und Wirrungen einzugehen. Mit gekonnter lyrischer Sprache und einem komplett durch den gesamten Roman aufrechterhaltenen Spannungsbogen ist es ein starker typischer Lenz-Roman. Zum Glück kann er jetzt gelesen werden.

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