Wenn der Fernseher den kleinen Frank an der Nase packt, lachen wir – nicht über ihn, sondern über das Wiedererkennen. Der Apparat, der ihn fesselt, ist ein Relikt. Doch die Geste ist geblieben. Heute heißen die Bildschirme anders: Reels, Tablets, Konsolen. Das Prinzip aber bleibt: ein Reiz, der nicht loslässt. Der „fernsehverrückte Frank“ ist ein Kind aus der Vergangenheit, das uns in die Gegenwart blickt.
„So ein Struwwelpeter“, erschienen 1970 in der DDR, ist eine ironisch-leichte, zugleich scharf beobachtete Neuinterpretation des Klassikers von Heinrich Hoffmann. Hansgeorg Stengel dichtet, Karl Schrader zeichnet – gemeinsam entwerfen sie eine Welt, in der Kinder Fehler machen dürfen, ohne gleich bestraft zu werden. Kein Daumen wird abgeschnitten, kein Kind verbannt. Die Strafen sind überzeichnet, aber nicht grausam – ein entglittener Schuh, ein vorwurfsvolles Gesicht, ein Bauch, der nach dem Festessen lärmt.
Weihnachten beginnt mit einem Satz
„Wenn die Kinder artig sind …“ – dieser Satz eröffnet das Buch, eröffnet das Fest, eröffnet die Erwartung. Was wie ein sanfter Einstieg klingt, ist in Wahrheit eine Struktur: Das ganze Buch bewegt sich entlang der Frage, was Kinder dürfen, was sie sollen – und was passiert, wenn sie’s nicht tun. Weihnachten wird zur Chiffre für Ordnung. Die Erzählungen zeigen Kinder, die das Ritual unterbrechen, das Bravsein nicht durchhalten, das Erwartete verlassen.
Und doch ist da keine Härte. Der Ton bleibt spielerisch. Die Strafen – bildhaft, verspielt, niemals traumatisch. Die Moral wird gereimt, nicht diktiert.
Pädagogik mit Pointe
Die Geschichten sind kurz, zugespitzt, meist komisch. Sie zeigen Unordnung, Maßlosigkeit, Eigensinn – und illustrieren, was daraus werden kann. Der Humor liegt in der Übertreibung, nicht in der Häme. Die Kinder werden nicht ausgelacht, sondern gespiegelt. Sie sind Projektionsflächen – für elterliche Sorgen ebenso wie für kindliche Ausflüchte.
Besonders deutlich wird das in der Geschichte vom Mäkelfritzen Fritze Lehmann: Ein Junge, der nichts anderes essen will als Stachelbeeren – bis ihm selbst Stacheln wachsen. Nicht aus Abneigung, sondern aus Einseitigkeit. Heute würde man ihn wahrscheinlich mit Nudeln und Ketchup zeichnen – der kulinarische Monolog der Gegenwart. Die Lektion aber bleibt: Wer nur eins will, bekommt es – mit Konsequenzen.
Schrader zeichnete mit Übertreibung, nicht mit Spott
Die Illustrationen sind karikaturhaft, aber nie entwürdigend. Schrader überzeichnete, um sichtbar zu machen: den Trotz, den Übermut, die Folgen. Hände verkrampfen, Blicke irren, Gesichter glühen. Doch die Kinder bleiben Kinder. Der Strich ist deutlich, aber nicht hart. Die Bilder tragen den Text, vertiefen ihn, widersprechen ihm manchmal – eine gute Illustration erzählt nicht nach, sie denkt mit.
Der Humor hat einen doppelten Boden
Stengels Reime tragen eine feine Ironie: Sie nehmen die Kinder ernst, aber nicht schwer. Der pädagogische Zeigefinger hebt sich zwar, bleibt aber aus Stoff. Kein Holz, kein Zwang. Die Sprache ist flüssig, manchmal sprunghaft, rhythmisch gebaut. Sie lebt von der Überraschung, vom kleinen Bruch im Vers, vom Umkippen der Erwartung.
Und so wird das Buch nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene lesbar. Für Eltern, die sich erinnern. Für Großeltern, die vergleichen. Für alle, die wissen, dass Erziehung mehr mit Geduld als mit Gehorsam zu tun hat.
Erziehung ohne Schrecken, Weihnachten ohne Pathos
In einer Zeit, in der viele Kinderbücher überpädagogisiert oder verniedlicht daherkommen, wirkt „So ein Struwwelpeter“ befreiend altmodisch – weil es Humor ernst nimmt. Die Geschichten sind Mahnung, aber keine Drohung. Sie zeigen: Kinder sind nicht perfekt. Und müssen es auch nicht sein. Fehler gehören dazu. Die Pointe liegt nicht im Gehorsam, sondern im Lernen.
Weihnachten ist dabei mehr als Kulisse. Es ist Prüfstein, Bühne, Möglichkeitsraum. Das Warten auf den Weihnachtsmann bleibt – und damit auch das Spiel mit dem Verhalten. Was einst mit „Wenn die Kinder artig sind…“ begann, endet heute vielleicht mit einem Witz – aber der Satz ist geblieben. Und mit ihm die stille Hoffnung, dass jemand kommt, der sieht, was war – nicht nur, was richtig war.
Ein Klassiker ohne Stock – dafür mit Witz
„So ein Struwwelpeter“ ist ein Kinderbuch, das nicht drängt, sondern begleitet. Es lebt von seinen Bildern, von der Sprache, vom leisen Lachen, das Erkenntnis trägt. Kein Zwang. Keine Moralkeule. Nur das freundliche Nicken des Textes: „Ich weiß, du kennst das.“
Und wir kennen es wirklich. Der Fernseher, der an uns zieht. Das Lieblingsessen, das keine Abwechslung kennt. Das Warten auf etwas Großes. Die Freude, wenn jemand trotzdem kommt.
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