Der erste Riss geht durch den Körper. Nicht durch die Gesellschaft, nicht durch die Geschichte – sondern durch die Haltung, mit der man morgens aufsteht. Hedda, Artistin im Varieté »Alkazar« auf der Hamburger Reeperbahn, hält sich aufrecht, weil sie es muss. Ihre Freiheit misst sich in Metern Drahtseil. Ihre Würde in Sekunden des Schweigens, die andere schon mit Parolen gefüllt haben.
Anja Kampmann erzählt in Die Wut ist ein heller Stern keine Geschichte über den Aufstieg des Nationalsozialismus. Sie erzählt von den Rändern, den Resten, den Rissen. Der Roman spielt 1933, aber er blickt nicht zurück – er schaut von innen. Vom schmalen Grat zwischen öffentlichem Raum und innerer Notwehr, von einer Frau, die noch balanciert, während unter ihr der Boden bereits absackt.
Die Figur: Hedda – zwischen Seil und Straße
Hedda ist keine Symbolfigur. Sie ist Körper, Bewegung, Blick. Ihre Nummer spielt sie über einem Becken mit Kaimanen – ein poetisches wie politisches Bild für das, was sich unter ihr zusammenzieht. Arthur, der Varieté-Besitzer, früher Hafenarbeiter, hält das »Alkazar« wie einen Schutzraum auf Zeit: ein Ort für jene, die sonst „hätten stempeln gehen müssen“. Doch dieser Raum schließt sich. Die Risse reichen bis zu den Fütterungszeiten: „Am Freitag ist die Lieferung ausgeblieben… Kein Fleisch für Eddy und Fred.“
Auch das Private wird unsicher. Heddas Bruder Jaan wartet darauf, auf einem Walfänger anzuheuern, während sie versucht, den kleinen Pauli vor dem Zugriff der Behörden zu verbergen. Seine sichtbare Rachitis macht ihn verwundbar – ein Körper, der nicht ins Raster passt. Unter dem Vorwand der Gesundheitsfürsorge beginnt das System zu sortieren, wer leben darf. Und wer nicht.
Sprache: gedämpft und geladen
Was Kampmanns Sprache leistet, ist kein atmosphärisches Dekor. Es ist ein Widerstand. Die Sätze sind schwer und präzise, rhythmisch wie Schritte auf gespanntem Draht. Vieles bleibt unausgesprochen – aber nicht ungesagt. Das Politische wirkt in Bildern: in rissigem Fensterglas, in der Leere hinter alten Wahlplakaten, in der Art, wie ein Kind eine Münze ansieht. Wer hier etwas zu sagen hat, sagt es nicht laut. Kampmanns Prosa spürt den Zwischenräumen nach – nicht als Lücke, sondern als Form von Wissen.
Innensicht statt Erklärung
Kampmann schreibt ohne erklärenden Ton. Sie nennt keine historischen Koordinaten, reiht keine Fakten – sie lässt ihre Figur sehen, fühlen, flüchten, verharren. „Wenn ich schreibe, dann geht es mir um eine bestimmte Intensität“ (NDR Kultur, 09.09.2025), sagt sie selbst. Das zeigt sich in der Figur Heddas: Sie lebt in Alarmbereitschaft, nicht aus Naivität, sondern aus Erfahrung. Der Blick aus dem Inneren – tastend, tastbar – ersetzt jede politische Einordnung. Man spürt, dass es weniger um das Was als um das Wie des Erinnerns geht. Bilder ersetzen Analyse. Witterung ersetzt Interpretation.
Macht als Geräuschkulisse
„Die Stadt ist mitten am Tag ein Muränenbecken“, heißt es. Die Uniformen tauchen im Publikum auf, das Flüstern wird zur Drohung, und über den Ereignissen liegt ein Satz wie aus einer anderen Welt: „Gesund müssen sie sein, sagt Henri, ihr nehmt kein Gift. Am einfachsten ist es, wenn ihr sie ersäuft.“ Die Ratten, die Knüppel, die Säcke – das Repertoire der Armut verwandelt sich in ein Instrument der Unterhaltung, unterfüttert von Angst.
Kampmanns Erzählung nimmt jene in den Blick, die sonst kaum genannt werden: die Frauen am Rand, die sich durchschlagen, die Kinder versorgen, die keine Sprache mehr übrig haben, um um Hilfe zu bitten. Viele von ihnen „haben das Einzige verkauft, was sie noch hatten: ihren Körper“ (NDR Kultur, 09.09.2025), so die Autorin. Und wurden dafür in Heime gesperrt, zur Arbeit gezwungen, sterilisiert. Der Roman macht sichtbar, was das Archiv oft gelöscht hat – indem er es literarisch erinnert.
Der Keiler
Ein Bild zieht sich durch den Text wie eine dunkle Signatur: der Keiler. Er erscheint als Schreckensgestalt, als vage Bedrohung, als systemische Macht ohne Gesicht. Keine Metapher, sondern Präsenz. Der Keiler ist das Geräusch, das unter den Szenen lauert, die Macht, die nicht frontal auftritt, sondern sich ausbreitet. Als Groll, als Vorschrift, als Verschwinden. Die Bedrohung wird nicht erklärt, sie wird verkörpert.
Bühne und Backstage: ein doppeltes System
Das »Alkazar« ist Bühne und Blende. Wer dort auftritt, tut es vor einem Publikum, das sich wandelt. Arthur verliert erst das Vertrauen, dann den Betrieb. Die Enteignung reißt auch jene mit, die ihn brauchen. Das Varieté, einst Freiraum für Körper und Kunst, wird zum Risikoort. Die Solidarität, einst sozial, wird ökonomisch – und mit ihr die Abhängigkeit.
Kampmann erzählt das nicht mit Pathos, sondern mit tektonischer Genauigkeit. Die Verhältnisse verschieben sich, Satz für Satz. Im Wechsel zwischen Ich- und Erzählstimme entsteht eine Kartografie der Unsichtbaren: kleine Leute, Hafenarbeiter, Kinderfängerinnen, Prostituierte, Varietékünstlerinnen. „Wer gerade frisch Uniform trägt wie Heddas Vater, war vermutlich gestern noch arbeitslos.“
Erinnerung als literarischer Widerstand
Die Wut ist ein heller Stern ist kein Rückblick. Es ist eine literarische Nachzeichnung eines Kipppunkts. Kampmann arbeitet mit literarischen Schichten: Das koloniale Erbe in »Deutsch-Südwest«, die Walfangpläne des Schiffs »Jan Wellem«, die Biografien zwischen Elbfleeten und Werkstätten, Lagerhäusern und Treppenfluren – alles hängt zusammen. Alles spricht, wenn man genau liest. Wer wann verschwand, wer wen schützte, wer nie wieder auftauchte – bleibt oft im Ungefähren. Und wirkt genau deshalb.
Und Hedda?
Hedda bleibt. Nicht am Ende – sondern in der Schwebe. Kampmann lässt ihr keine Lösung, aber ein Dasein. Ein Fortbestehen im Bild, im Gang, im Blick. Diese Frau, die sich über Straßen, Körper, Erinnerungen spannt wie über ein Seil, ist kein Mahnmal. Sie ist ein Zustand. Eine literarische Haltung. Und vielleicht deshalb aktueller als man denkt.
Die Autorin Anja Kampmann
Anja Kampmann wurde 1983 in Hamburg geboren und lebt in Leipzig. Sie studierte an der Universität Hamburg und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2016 erschien ihr Lyrikdebüt Proben von Stein und Licht, 2018 folgte der Roman Wie hoch die Wasser steigen – nominiert u. a. für den Deutschen Buchpreis und den National Book Award. Für ihre Lyrik erhielt sie 2021 den Günter-Kunert-Preis, 2024 den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis.
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