Warum lesen wir noch? – Literatur im Zeitalter von Netflix und TikTok

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Hand aufs Herz: Wie oft hast du in den letzten Wochen mehr Zeit mit einer Serie als mit einem Roman verbracht? Der Bildschirm flackert, die Timeline rauscht, während das Buch im Regal wie ein Fossil aus einer anderen Epoche wartet. Und trotzdem: Wir lesen noch. Nicht so selbstverständlich wie früher, aber hartnäckig, trotzig, fast subversiv.

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In einer Welt, die uns permanent mit Bewegtbildern füttert, wirkt das stille Umblättern einer Seite wie ein Akt des Widerstands.

Netflix liefert Geschichten im Akkord

Serienkultur hat das Erzählen revolutioniert. An die Stelle des Romans tritt die „Staffel“, an die Stelle des Kapitels die „Episode“. Statt Autorinnen und Autoren, die über Jahre einen Text formen, stehen heute Writers’ Rooms, die Content im Fließband-Modus produzieren. Geschichten sind sofort verfügbar, binge-bar, visuell überladen – perfekt, um in einer Nacht gleich drei Leben zu leben.

Literatur kann da nicht mithalten – aber genau das ist ihre Stärke. Sie zwingt nicht, sie lädt ein. Sie braucht Zeit, Geduld, Imagination. Wo Netflix uns Bilder liefert, verlangt Literatur, dass wir sie selbst erzeugen.

TikTok kommt mit 15 Sekunden Aufmerksamkeit klar

Noch radikaler ist TikTok: Geschichten als Mikro-Clips, auf Effekt geschnitten, maximal verdichtet. Was nicht sofort fesselt, wird weggewischt. Hier zählt nicht die Handlung, sondern die Reaktion. Das Buch dagegen bleibt sperrig: Es fordert Konzentration, verlangt einen längeren Atem, kennt keine Skip-Taste.

Und doch – oder gerade deshalb – entstehen dort Gegenbewegungen. #BookTok, Millionen junger Leserinnen und Leser, die zeigen, dass auch im schnellsten Medium Raum für langsame Geschichten bleibt. Ironischerweise macht ausgerechnet TikTok Bestseller, die im Buchhandel längst vergessen waren.

Warum wir trotzdem lesen

Die Frage ist also nicht: Warum verschwindet das Lesen? Sondern: Warum überlebt es? Vielleicht, weil Literatur eine Erfahrung bietet, die kein anderer Modus ersetzen kann. Sie schafft Innenwelten, die nicht in Pixeln aufgehen. Sie zwingt zur Auseinandersetzung mit Sprache, mit Mehrdeutigkeit, mit dem Unfertigen.

Serien liefern uns Welten, in denen wir uns verlieren. Bücher schenken uns Räume, in denen wir uns finden.

Lesen als Gegenkultur

In einer Gesellschaft, die auf Geschwindigkeit und Dauerbespielung setzt, ist Lesen fast schon eine Form der Askese. Ein Buch aufzuschlagen bedeutet, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen. Es ist nicht „Content“, es ist Konzentration.

Man könnte sagen: Wer heute liest, macht genau das, was Streaming und Social Media nicht können – er baut eine intime Beziehung zwischen Text und Geist auf. Kein Algorithmus entscheidet, welche Seite du als Nächstes bekommst.

Scrollen oder blättern?

Vielleicht ist die eigentliche Pointe, dass es nicht um ein „Entweder-Oder“ geht. Wir werden weiter Serien schauen, weiter scrollen, weiter swipen. Aber wir werden auch weiter lesen – weil Literatur etwas anderes erfüllt. Sie ist nicht schneller, nicht leichter, nicht lauter. Sie ist tiefer.

Und solange es Menschen gibt, die diese Tiefe suchen, wird das Buch mehr sein als ein Fossil im Regal. Es wird zum Zeichen, dass wir uns die Zeit zurückholen können, die Netflix und TikTok uns stehlen.


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