In Und Federn überall verdichtet Nava Ebrahimi den ländlichen Alltag zu einer bedrückenden Choreografie aus Erschöpfung, Einsamkeit und leiser Rebellion. Der Roman spielt an einem einzigen Montag in der fiktiven Kleinstadt Lasseren im Emsland, doch was sich dort zwischen Schlachthof, leerem Busbahnhof und Wohnküchen abspielt, erzählt von weit mehr: von Migration, Sprachverlust, ökonomischer Ausbeutung – und von einem verzweifelten Bedürfnis nach Zugehörigkeit.
Der Titel täuscht nicht: Federn sind überall. Sie schweben als Sinnbild durch den Text, zeigen Verletzlichkeit und Rückstand an, markieren aber auch Gewalt. Das Geflügel, das im Werk des Schlachthofs zerlegt wird, ist zugleich Motiv und Metapher – für die Menschen, die dort arbeiten, und für die Zustände, unter denen sie leben.
Ein Montag, sechs Leben
Ebrahimi entfaltet die Geschichten von sechs Figuren, deren Wege sich im Verlauf des Tages kreuzen, überlagern und kommentieren. Sonia, alleinerziehende Mutter, kämpft mit Behörden, Bewerbungen und ihrer eigenen Wut. Anna, frühere Journalistin, lebt in Rückzug und Stillstand. Nassim, einst Dichter im Exil, wird zum Rohstoff für das nächste literarische Projekt. Justyna, Arbeiterin am Schlachthof, zählt die Sekunden im Takt der Maschinen. Merkhausen, ein Mann mit Ambitionen und Ressentiments. Und Roshi, eine Autorin, die sich auf Recherchereise befindet – oder sich vielleicht selbst sucht.
Diese Figuren tragen ihre Geschichten wie zu schwere Rucksäcke durch die Nebel dieser Provinz. Doch gerade dieser Ballast bringt sie in Bewegung. Der Montag wirkt dabei nicht als banaler Wochenanfang, sondern als Tag, an dem alles ins Rutschen gerät.
Vielstimmigkeit ohne Harmonie
Ebrahimi erzählt multiperspektivisch, aber nicht im Gleichklang. Ihre Polyphonie ist rau, kantig, voller Dissonanzen. Es wird nicht geantwortet, sondern geschoben, umgedeutet, verschwiegen. Die Wechsel der Erzählstimmen folgen keinem didaktischen Muster, sondern dem inneren Rhythmus der Figuren.
Roshi, die Autorin aus Köln, reist mit Notizblock in der Tasche an und findet eine Welt vor, in der die Ordnung der Dinge längst ins Surreale gekippt ist. Gleich zu Beginn reißt ein Güterzug eine Tüte Müll mit – ein beiläufiges Bild, das die Tonlage des Romans trifft: fragile Existenzen, denen jederzeit der Boden unter den Füßen weggezogen werden kann.
Sonia hingegen wacht mit den Hennen im Kopf auf. Ihre Gedanken springen zwischen Bewerbungsphrasen und grotesken Assoziationen – etwa dem Bild verholzter Brustmuskulatur, der sogenannten „Wooden Breast“, einer Erkrankung von Mastgeflügel, die sich hier literarisch überträgt. Die Sprache wird zur Symptomträgerin. Wo bei anderen Innerlichkeit beginnt, setzt bei Sonia eine Überforderung ein, die sich in Satzabbrüchen, Verdichtungen und sarkastischer Komik entlädt.
Prosa zwischen Klarheit und Störung
Ebrahimis Stil ist nüchtern, aber nicht kalt. Ihre Prosa erlaubt keine Ausflüchte: Sie tastet präzise durch Gespräche, Beobachtungen und Automatismen. Immer wieder wird das Alltägliche sprachlich aufgeladen – nur um im nächsten Moment jäh in die Tristesse des realen Lebens zurückzusacken. Gerade in diesen Brüchen liegt die Kraft des Romans.
Rhythmisch spielt Ebrahimi mit Kontrasten: knappe, harte Sätze, dann wieder ausufernde Gedankenketten. Die Dialoge sind direkt, oft lakonisch, durchzogen von Milieuprägung und fragmentierter Grammatik. Das Deutsch, das hier gesprochen wird, ist kein Hochdeutsch der Feuilletons, sondern ein erfahrungsgetränktes, gebrochenes – und gerade darin liegt seine Authentizität.
Gewalt, Ökonomie und das Tier im Menschen
In einer der intensivsten Szenen sperrt Sonia ihre Tochter ein – eine Eskalation, die physisch wie psychisch kaum auszuhalten ist. Diese Szene steht nicht isoliert: Sie verweist auf die verzweigte Gemengelage aus Überlastung, Gewalt und ökonomischer Verhärtung. Der Arbeitsplatz Schlachthof ist dabei kein Hintergrundrauschen, sondern ein Symbol für das System: zergliedert, anonym, effizient – ein Ort, an dem Lebewesen zerlegt werden, um Profit zu erzeugen. Dass Sonia die Hennen nicht aus dem Kopf bekommt, ist kein Zufall, sondern ein wiederkehrendes Motiv, das sich tief in den Text eingräbt.
Auch historische Spuren durchziehen Lasseren: Der Ort ist geprägt von Verdrängung, Entwurzelung, mehrfacher Migration. Justynas Erinnerungen an ihre Heimat Polen oder Nassims Erfahrungen aus dem Iran mischen sich mit den Schatten deutscher Geschichte. Alte Kriegsrückzugsorte liegen neben neuen Unterkünften – Vergangenheit und Gegenwart sind nicht sauber getrennt.
Zwischen Provinz und Welt
Im Vergleich zu Sechzehn Wörter und Das Paradies meines Nachbarn erweitert Und Federn überall den Radius: Nicht mehr nur Herkunft und Sprache stehen im Mittelpunkt, sondern das Leben selbst – im Spannungsfeld zwischen Anpassung und innerem Rückzug. Ebrahimi verlässt die Migrationsnische und schreibt einen Gesellschaftsroman, der den ländlichen Raum nicht romantisiert, sondern seziert.
Dabei steht sie durchaus in einer Linie mit Autor:innen wie Juli Zeh (Unterleuten) oder Saša Stanišić (Vor dem Fest), doch ihre Stimme ist eine andere: migrantisch geprägt, formal offener, melancholischer. Sie erzählt nicht von einem sozialen Gefüge, das sich neu sortieren muss, sondern von einem, das längst auseinandergefallen ist.
Ein stiller, unbequemer Roman
Und Federn überall ist kein wohltemperiertes Gesellschaftspanorama, sondern ein Roman, der durch seine Kargheit wirkt. Die Figuren sind beschädigt, ihre Lebenswege verschlungen, ihre Dialoge oft gebrochen – und genau das macht diesen Text so eindringlich. Es geht nicht um die große Läuterung, sondern um das tägliche Aushalten.
Dass am Ende Hühner über das Gelände flattern und Federn durch die Luft wirbeln, ist keine Erlösung, sondern ein Bild des Übergangs: ausgebrochen, entfesselt – und doch verloren im Nebel der niedersächsischen Landschaft.
Über die Autorin Nava Ebrahimi
Nava Ebrahimi wurde 1978 in Teheran geboren und lebt heute in Graz. Sie arbeitete zunächst als Wirtschaftsjournalistin, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Für ihr Debüt Sechzehn Wörter erhielt sie 2017 den Österreichischen Buchpreis für das beste Debüt. Es folgten Das Paradies meines Nachbarn (2020) und der Bachmann-preisgekrönte Text Der Cousin(2021). Mit Und Federn überall steht sie auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2025 und legt ihren bisher weitreichendsten Roman vor.
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