Washington D.C., Ende Januar 1958. Es ist kalt, die Herrentoilette der Union Station bietet wenig Komfort – und noch weniger Orientierung. Ein Mann erwacht auf dem Boden, bar jeder Erinnerung. Wer ist er? Was ist passiert? Und wieso trägt er die Kleidung eines Obdachlosen, obwohl sein Verhalten und seine Gedanken darauf schließen lassen, dass er in einem anderen Leben deutlich andere Standards gewohnt war?
Übersetzt von Till R. Lohmeyer und Christel Rost
Erstveröffentlichung: 29. September 2017
Schon auf den ersten Seiten macht Ken Follett klar, dass es hier nicht um feinsinnige Seelenerkundung, sondern um einen Spionagethriller alter Schule geht. Luke – so wird der namenlose Mann von einem weiteren Obdachlosen genannt – spürt bald, dass er nicht nur sein Gedächtnis verloren hat, sondern sich offenbar in einer lebensgefährlichen Situation befindet. Unbekannte verfolgen ihn, und zu seinem eigenen Erstaunen weiß er genau, wie man Verfolger erkennt, sich aus gefährlichen Situationen befreit und Gegner in die Flucht schlägt. All das spricht weniger für einen Zufall, sondern vielmehr für eine Vergangenheit, die mit Geheimdiensten, militärischer Ausbildung und politischer Brisanz zu tun haben muss.
Mit wenigen Requisiten – ein gestohlener Koffer, ein Buch über Raketenforschung, ein Besuch in einer Universitätsbibliothek – entfaltet sich Stück für Stück die Wahrheit. Luke war kein Niemand. Er war Raumfahrtingenieur. Oder vielleicht Spion. Oder beides. Und möglicherweise steht er im Zentrum einer Verschwörung, die weit über seine Person hinausreicht. Dass sich die Handlung unmittelbar vor dem historischen Start des ersten amerikanischen Satelliten „Explorer 1“ am 1. Februar 1958 abspielt, verleiht dem Roman nicht nur historisches Gewicht, sondern auch politisches Timing. Ein später Epilog führt zudem ins Jahr 1969 – an einen Ort, der für Raumfahrt-Skeptiker ebenso aufgeladen ist wie für Folletts Held.
Ein Held zwischen Erinnerung und Täuschung
Im Zentrum steht die Suche nach Identität – nicht als stilles Nachdenken über das Selbst, sondern als aktiver Kampf um die Wahrheit. Luke durchstreift die Stadt, trifft alte Bekannte, die ihm widersprüchliche Informationen liefern, stößt auf Hinweise, dass er seine Frau betrogen haben könnte – mit der Frau seines besten Freundes – und sieht sich plötzlich mit der Frage konfrontiert, ob er ein Verräter war. Oder ein Bauernopfer. Oder ein Instrument in einem Spiel, dessen Regeln er selbst nie verstanden hat.
Follett nutzt diese Ausgangslage, um die klassischen Zutaten des Agentenromans zu inszenieren: Verfolgungsjagden, geheime Akten, versteckte Identitäten, falsche Loyalitäten – und natürlich einen Showdown, bei dem das Schicksal nicht nur des Protagonisten, sondern einer ganzen Nation auf dem Spiel steht. Manches davon ist clever inszeniert, anderes wirkt wie aus dem Lehrbuch des Genres entnommen – aber genau das ist Teil des Programms.
Einschätzung: von Das zweite Gedächtnis
Für eingefleischte Follett-Fans ist Das zweite Gedächtnis ein sicheres Lesevergnügen. Die Sprache ist schnörkellos, das Erzähltempo straff, die Kapitel enden regelmäßig mit Cliffhangern, die zum Weiterlesen zwingen. Es gibt keine stilistischen Extravaganzen, dafür aber eine routinierte Beherrschung des Spannungsaufbaus, wie sie sich nur in einem lang geübten Erzählhandwerk findet. Die Kombination aus historischer Genauigkeit, politischem Hintergrund und persönlichem Drama ist Follett-typisch – und genau das schätzen seine Leser.
Wer jedoch weniger an Genretreue und mehr an erzählerischer Innovation interessiert ist, wird mit diesem Buch nur bedingt glücklich. Die Grundidee – Gedächtnisverlust, verdeckte Identität, drohende Katastrophe – ist nicht neu und wurde in ähnlicher Form vielfach variiert.
Die Handlung folgt vorhersehbaren Mustern, und auch die psychologische Tiefe der Figuren bleibt eher funktional als nuanciert. Luke ist nicht so sehr ein Mensch mit innerer Zerrissenheit, sondern ein Erzählinstrument, das sich durch die Plotmechanik arbeitet.
Was viele begeistern mag – das permanente Vorwärtstreiben der Handlung, der ständige Wechsel von Schauplätzen, die zunehmend dramatischen Enthüllungen – wird für andere zur Belastungsprobe. Vor allem das Finale, das in typischer Follett-Manier noch einmal alle Register zieht, dürfte die Meinungen spalten: Für die einen ein packender Showdown, für die anderen ein überinszeniertes Spektakel, das die zuvor sorgfältig aufgebaute Spannung etwas zu effektheischend auflöst.
Formelsicherer Thriller mit historischem Hintergrund – zuverlässig, aber wenig überraschend
Das zweite Gedächtnis ist ein Buch, das hält, was es verspricht – allerdings auch nicht mehr. Für Ken-Follett-Leser, die genau diesen Stil schätzen, ist es ein unterhaltsames, gut konstruiertes Werk mit hohem Tempo und einem gewohnt stimmigen historischen Setting. Wer sich für Spionagegeschichten im Kalten Krieg interessiert, wird mit solidem Stoff versorgt. Für andere hingegen wirkt die Erzählung in Teilen zu vertraut, die Figuren zu schematisch und die Dramaturgie zu sehr auf das große Finale zugespitzt.
Aber vielleicht liegt genau darin auch Folletts Kunst: Leserinnen und Leser da abzuholen, wo sie den sicheren Nervenkitzel suchen – ohne Anspruch auf literarische Tiefe, aber mit einem Händchen für dramatische Momente, die in Erinnerung bleiben. Und sei es auch nur bruchstückhaft – wie bei Luke, dem Mann mit dem zweiten Gedächtnis.
Über den Autor Ken Follett
Ken Follett, geboren 1949 in Cardiff, zählt zu den erfolgreichsten Erzählern internationaler Spannungsliteratur. Seine Karriere begann er als Journalist und Verlagsmitarbeiter, ehe er 1979 mit dem Spionagethriller Die Nadel den internationalen Durchbruch feierte. Der Roman wurde mit dem Edgar Allan Poe Award ausgezeichnet und markiert den Auftakt einer Karriere, in der Follett sich immer wieder zwischen historischen Epen und politischen Thrillern bewegte. Mit über 192 Millionen verkauften Büchern in mehr als 80 Ländern zählt er zu den meistgelesenen Autoren der Gegenwart.
Besonders bekannt wurde er durch die Kingsbridge-Reihe, deren erster Band Die Säulen der Erde 1989 erschien und weltweit Bestsellerlisten anführte. Folletts Markenzeichen ist die Verbindung aus akribischer Recherche, dramatischer Handlung und populärem Erzählstil – sei es im Mittelalter, im 20. Jahrhundert oder im Kalten Krieg. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit engagiert er sich für Lese- und Bildungsförderung und lebt mit seiner Frau Barbara, einer ehemaligen Abgeordneten der britischen Labour-Partei, in Hertfordshire.