Lesen ist mehr als Technik. Es ist der Moment, in dem Kinder beginnen, ihre eigene Welt zu gestalten – Satz für Satz, Bild für Bild. Und es braucht Geschichten, die mehr sind als Futter: Bücher, die tragen, leuchten, öffnen. Alexander Wolkows Zauberland-Zyklus ist genau das – eine sechsbändige Reihe, die Abenteuer mit Haltung verbindet, Fantasie mit Struktur, Mut mit Menschlichkeit.
Was als sowjetische Nacherzählung von L. Frank Baums „Wizard of Oz“ begann, wurde in der DDR zu einer prägenden Leseerfahrung für Generationen. Nicht zuletzt dank der feinfühligen Übersetzung von Lazar Steinmetz, deren Klarheit und Musikalität Kindern wie Eltern den Zugang erleichtert. Und durch die Zeichnungen von Leonid Wladimirski, der nicht bebildert, sondern miterzählt – mit Strich und Schatten, mit Zwinkern und Stille.
Die sechs Bände eignen sich hervorragend für Kinder ab der zweiten Klasse – als Einstieg ins Selberlesen, als Sprachförderung durch Wiederholung und Erzähltiefe, als Einladung zum Weiterdenken. Jedes Buch bringt neue Figuren, neue Themen, neue Herausforderungen – aber behält den Ton: einfühlsam, spannend, bildreich.
Alexander Wolkows Zauberland-Zyklus: Sechs Reisen ins Herz der Fantasie
1. Der Zauberer der Smaragdenstadt
Der Auftakt wirkt vertraut und fremd zugleich: Ein Sturm trägt Elli und ihren Hund Totoschka ins Zauberland – eine Welt aus gelben Ziegelstraßen, sprechenden Löwen, Denkern aus Stroh und sentimentalen Holzfällern. Wer hier an „Der Zauberer von Oz“ denkt, liegt nicht falsch – Wolkow bedient sich Baums Blaupause, schreibt sie aber mit sowjetischer Handschrift um. Elli ist keine Waise, sondern ein kluges, entschlossenes Kind mit Elternhaus; Freundschaft und Mitgefühl sind keine Mittel zum Zweck, sondern der Weg selbst.
Leonid Wladimirski illustriert diese Welt nicht dekorativ, sondern begleitend – Gesichter, die denken; Körper, die fühlen; eine Bildsprache, die nicht schreit, sondern spricht. Gerade für Leseanfänger ist das Buch ein Türöffner: Sprachlich klar, inhaltlich greifbar, emotional nah. Die Handlung bewegt sich auf vertrautem Boden, und doch eröffnen sich Räume, die in Baums Version nur angedeutet waren.
Ein Kinderbuch, das ohne Belehrung Haltung zeigt. Kein Actionmärchen, sondern ein erzählter Aufbruch – und der Beginn einer Reihe, die mehr will als unterhalten.
2. Der schlaue Urfin und seine Holzsoldaten
Urfin – Tischler, Eigenbrötler, Kontrollfanatiker – entdeckt ein wundersames Kraut, das Holz lebendig macht. Was folgt, ist keine bloße Fortsetzung, sondern eine Allegorie auf Macht, Kontrolle und den Preis der Überheblichkeit. Urfins Soldaten marschieren, die Smaragdenstadt fällt, doch Elli kehrt zurück – und mit ihr die Erkenntnis: Wer nur Befehle gibt, bleibt einsam.
Der Band entfaltet sich als Spiegel: Die Helden wachsen kaum, doch der Gegner ist vielschichtig. Kein klassischer Bösewicht, sondern ein Mann mit verletztem Stolz und enttäuschter Hoffnung. Für junge Leser ergibt sich daraus ein stiller Perspektivwechsel: Nicht jede Gefahr hat Hörner – manchmal reicht ein scharfer Blick und ein Wort zu viel.
Wladimirski verdichtet diese Spannung in seinen Illustrationen: starre Holzsoldaten, Urfin mit blitzenden Augen, eine Stadt in Erwartung. Die Bilder sind nicht mehr bloß erzählerisch, sie deuten, sie fragen.
Ein Band, der sprachlich weiterhin einladend bleibt.
3. Die sieben unterirdischen Könige
Eine Welt unter der Erde – sieben Könige, sieben Höfe, sieben Schichten der Macht. Elli und ihr Cousin Fred stürzen versehentlich in dieses System, das wie eine Spiegelwelt der Ordnung wirkt: kontrolliert, geschichtet, eingefroren. Doch die Begegnung mit der Oberfläche, mit Bewegung und Emotion, bringt Unruhe in die Gleichförmigkeit.
Wolkow geht hier weiter – aus dem bunten Zauberland wird ein strukturiertes Kammerspiel. Die Handlung ist weniger flirrend, dafür intensiver. Kinder begegnen hier einem Gesellschaftsentwurf, in dem Entscheidungen nicht durch Zauberstäbe, sondern durch Empathie verändert werden. Der Text bleibt zugänglich, doch das Thema vertieft sich: Macht ohne Gewalt, Ordnung ohne Freiheit – das sind Fragen, die dieser Band ganz leise stellt.
Wladimirski nutzt den Bildraum konsequent: Licht fällt von oben, Gesichter sind steinern, doch nicht tot. Die Illustrationen zeigen nicht die große Geste, sondern die kleine Regung – eine Linie mehr, ein Schatten weniger.
Ein klug komponierter Band, der zeigt, dass Kinderliteratur keine Kompromisse machen muss: spannend und nachdenklich zugleich.
4. Der Feuergott der Marranen
Urfin kehrt zurück – geläutert? Nein. Gewandter. Dieses Mal erhebt er sich nicht mit Holzsoldaten, sondern mit Sprache. Er manipuliert ein Volk, nennt sich Feuergott, inszeniert sich als Retter – und zeigt, dass Macht längst nicht nur durch Waffen wirkt.
Wolkow bringt mit diesem Band ein neues Thema ins Spiel: Propaganda, Täuschung, kollektives Denken. Die Marranen sind keine Karikaturen – sie sind gutgläubig, suchend. Und das macht den Verrat umso schmerzhafter.
Ann und Tim, neue Hauptfiguren, agieren vorsichtig, tastend – wie Kinder, die gelernt haben, dass nicht jede Wahrheit laut ruft. Der Plot wird ruhiger, aber nicht langweiliger: Spannung entsteht durch Misstrauen, nicht durch Schlachten.
Illustratorisch bleibt Wladimirski präzise: Urfin wirkt härter gezeichnet, Karfax – der Adler – fliegt fast greifbar, und die Marranen sind nicht fremd, sondern vertraut in ihrer Suche.
Für Leser, die mitdenken wollen, ist dieser Band ideal. Er macht aus Abenteuer eine Frage: Wem glauben wir – und warum? Und wie schnell kann ein Retter zum Diktator werden?
5. Der gelbe Nebel
Es wird stiller. Und dichter. Arachna, eine uralte Hexe, erwacht nach Jahrtausenden. Ihr Erwachen ist kein Grollen, sondern ein Schleichen – begleitet vom titelgebenden gelben Nebel, der sich wie eine Erinnerung durch das Land zieht.
Dieser Band verlässt die gewohnte Struktur. Statt Heldinnenreise gibt es ein Innehalten, ein Nachdenken über Geschichte, Macht und Wandel. Die Welt ist älter geworden, verletzlicher. Und das spiegelt sich im Ton.
Für junge Leser ist dieser Band eine Herausforderung – aber eine lohnende. Die Sprache bleibt verständlich, doch das, was erzählt wird, ist schwerer: Vergangenheit wird zur Bedrohung, Schweigen zur Gefahr.
Wladimirski malt hier keine Dramen, sondern Andeutungen. Nebelschwaden, die kaum greifbar sind. Gesichter, die mehr verschweigen als zeigen. Ein visuelles Echo auf das Thema Zeit – und auf das, was sie mit uns macht.
6. Das Geheimnis des verlassenen Schlosses
Der letzte Band ist kein Finale – eher ein stilles Ausblenden. Ein verlassenes Schloss, ein sprechender Spiegel, ein untoter König: Was wie ein Geistermärchen klingt, entpuppt sich als Reise in die eigene Erinnerung.
Elli, Ann und Tim kehren zurück, begegnen der Vergangenheit in Gestalt und Spiegelbild. Hier wird nicht mehr gekämpft – hier wird verstanden. Was ist Geschichte? Was bleibt? Und wie lebt man mit dem, was man war?
Die Handlung ist ruhig, fast meditativ. Kein Showdown, kein Feuerwerk – nur Räume, Stimmen, Leerräume. Für geübte junge Leser ist das ein würdiger Abschluss: ein Buch, das Raum lässt zum Nachklingen.
Wladimirski zeichnet leise, fast zögerlich: Schatten in Fluren, Spiegel ohne Reflex.
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