Ferdinand von Schirach nennt es ein Theaterstück, nicht einen Roman. Das ist korrekt – Sie sagt. Er sagt. ist ein Bühnenprotokoll, das von einem Vergewaltigungsprozess erzählt. Zwei Menschen, zwei Aussagen, kein objektiver Beweis. Der Gerichtssaal als Schauplatz eines Konflikts, bei dem nicht nur juristische, sondern auch gesellschaftliche Fragen verhandelt werden: Was gilt als glaubwürdig? Wer hat Definitionsmacht? Und was bleibt, wenn nichts zweifelsfrei feststellbar ist?
Der Text beschränkt sich auf das Verfahren: ein paar Figuren, präzise gesetzte Aussagen, keine Kulisse, keine Ausschmückung. Schirach bleibt seinem Stil treu – knapp, formal, kontrolliert. Nicht emotional, aber eindringlich. Die Wahrheit bleibt ungeklärt. Absichtsvoll. Und gerade deshalb bleibt der Text im Gedächtnis.
Aussage, Widerspruch, Wiederholung
Im Mittelpunkt steht ein Gerichtsprozess. Eine Fernsehmoderatorin beschuldigt einen früheren Partner, ein bekannter Unternehmer, sie vergewaltigt zu haben. Beide bestreiten einander nicht in der Tatsache des Treffens, sondern in dessen Deutung. Die Handlung spielt vollständig im Gerichtssaal. Zeuginnen, Gutachter, Anwälte treten auf. Keine Rückblenden, keine Innenperspektive. Nur das, was gesagt wird.
Der Text simuliert kein Drama, er bildet ein Verfahren ab. Es geht nicht um Schuld oder Unschuld, sondern darum, was vor Gericht als „glaubhaft“ gilt. Der Wechsel zwischen den Aussagen zeigt: Die Wahrheit ist nicht nur eine Frage der Fakten, sondern auch der Perspektive.
Sprache: Funktion statt Fiktion
Schirachs Sprache ist reduziert. Kein Pathos, keine Metaphern. Jeder Satz steht für sich, klar und schnörkellos. Das Stück funktioniert wie ein juristisches Dokument – präzise, sachlich, fordernd. Wer mehr erwartet, sucht vergeblich. Wer bereit ist, auf dieser Ebene zu lesen, erkennt die Mechanik dahinter: Der Text stellt keine Deutungen bereit, sondern zwingt zur eigenen.
Gesellschaftlicher Kontext: #MeToo, Medienschelte, Rechtsstaat
Sie sagt. Er sagt. knüpft an reale Prozesse an, ohne konkrete Vorbilder zu benennen. Die Parallelen zu medial bekannten Fällen sind offensichtlich. Schirach interessiert sich nicht für Schuldzuweisungen, sondern für Strukturen. Für die Lücke zwischen Aussage und Beweis. Für die Grenzen des Strafrechts, wenn es um intime Gewalt geht.
Das Stück ist keine Anklage, aber eine Diagnose. Es zeigt, wie öffentlich über private Grenzverletzungen geurteilt wird, ohne dass die Mittel zur Verfügung stehen, um das Geschehen eindeutig zu rekonstruieren. Das betrifft nicht nur das Rechtssystem, sondern auch die Debattenkultur.
Rezeption und Umsetzung
Das Stück wurde am 7. September 2024 in Wien uraufgeführt, zuvor lief die Verfilmung im ZDF. Die Inszenierungen blieben nahe am Text. Kritiken hoben die formale Konsequenz hervor, äußerten aber auch Vorbehalte gegenüber der emotionalen Distanz. Genau das ist der Punkt: Der Text macht keine Angebote zur Identifikation – er stellt aus, was nicht auflösbar ist.
Sie sagt. Er sagt. ist eine Versuchsanordnung über die Unsicherheit des Wissens. Wer Antworten erwartet, wird enttäuscht. Wer bereit ist, die Leerstelle auszuhalten, erkennt die Stärke dieses Textes.