Dass vermehrt über den sozialen Status als Ausgangspunkt für Diskriminierung und Unterdrückung gesprochen wird, ist ohne Frage begrüßenswert. Trat die Klasse als Stigma in den öffentlichen Debatten der vergangenen Jahre oftmals hinter augenscheinlicheren Aspekten wie Geschlecht und/oder Hautfarbe zurück, wird aktuell vermehrt auch über Klassismus - im Übrigen eine über 200 Jahre alte Bezeichnung - gesprochen. In der Literatur wird dem Thema Klasse bereits seit einigen Jahren große Aufmerksamkeit geschenkt. Immer häufiger zeichnen Autorinnen und Autoren in belletristischen Werken Lebenswege nach, die nicht gewählt, sondern aufgezwungen wurden. Welch künstlerisches Potenzial birgt die Klasse?
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Als der französische Soziologe und Hochschulprofessor Didier Eribon im Jahr 2009 sein Buch "Rückkehr nach Reims" in Frankreich veröffentlichte, hat er eine Tür aufgestoßen, die lange Zeit nur hin und wieder leise geöffnet und schnell wieder verschlossen wurde. Gleich auf den ersten Seiten seines autobiografischen Berichts fragt sich Erbion, warum er in seinen bisherigen Büchern und wissenschaftlichen Arbeiten einen fundamentalen und essentiellen Aspekt vernachlässigt hatte. Warum hatte er nie seine eigene soziale Herkunft berücksichtigt, nie über seinen Weg aus einem bildungsfernen Arbeitermilieu in die akademischen Gefilde geschrieben? Warum, fragt er, hat er, wenn er etwa über identitätspolitische Themen nachdachte, das Tableau Klassismus vernachlässigt? Von dieser Frage ausgehend fährt der Soziologe fort. Zurück in die eigene Geschichte, in jenes vernachlässigte Herkunftsmilieu der nordfranzösischen Arbeiterschaft, wo keimte, was ihn sein Leben lang begleiten wird.
Schnell bemerkt Eribon dabei, dass die Klassenposition der individuellen Entfaltung klare Grenzen setzt. Jeder Mensch, so der Soziologe, komme mit einer sozialen Vergangenheit zur Welt; mit einem Zurückblicken, das ihm anhafte, mit dem er umzugehen hat und das er beständig reproduziert. Auch wenn man beschließt, gegen diese anhaftende Klasse anzukämpfen, bleibt sie doch ein Stachel im Fleisch. Auch die Auflehnung entlässt uns nicht aus dieser Vergangenheit, denn diese zeigt sich bereits in der Art und Weise, wie wir uns auflehnen.
Eindrucksvoll und nachvollziehbar schreibt Didier Eribon über seine Mutter, die sich Anfang der 1980er Jahre von der Kommunistischen Partei abgewandt und dem rechtspopulistischen Front National zugewandt hatte. Eine politische Tendenz, die nicht nur in Frankreich anzutreffen ist. Auch in Deutschland sehen wir ähnliche Abwanderungen nach rechts.
Die Scham
"Rückkehr nach Reims" gilt heute als ein Schlüsselwerk zur Analyse der gesellschaftlichen Gegenwart. Individuelle Neigungen und Vorlieben, die Wahl von Lebensentwürfen sowie das Sich-Selbst-Setzen wird hier mit der Art und Weise der Reproduktion sozialer Klassen - und deren Brechung - in Verbindung gebracht. Ein wichtiges Element innerhalb dieser - stellenweise sehr literarisch - geschriebenen Analyse ist die Scham für, und die Scham vor dem Herkunftsmilieu. Diese Scham begegnet uns in der französischen Literatur in ähnlicher Form bereits einige Jahre früher. 1997 erscheint der Roman "La honte" (zu Deutsch: "Die Scham") der Schriftstellerin Annie Ernaux, die darin ebenfalls sezierend über die soziale Verhältnisse und die Beziehung zu ihren Eltern schreibt. In Ernaux´ Roman steht der Wunsch nach sozialem Aufstieg dem Rückfall in alte Verhältnisse gegenüber. Was Didier Erbion meint, wenn er von einer uns anhaftenden Klassenvergangenheit spricht, wird in Ernaux Roman literarisch sichtbar: Die Ambivalenz der Klassen selbst, die, so erniedrigend und niederschmetternd sie auch sein mögen, auch eine gewisse Zähe und Bequemlichkeit innehaben.
Annie Ernaux - ihrerseits eine Klassenaufsteigerin, die aus provinziellen in akademische Verhältnisse übersiedelte - beschreibt die Scham als Gefühl der eigenen Unwürdigkeit. Der Aufsteigerin haftet etwas "Niederes" an, das sich unter anderem in der Sprache niederschlägt. Allenthalben stößt die Autorin auf ihre Vergangenheit, die sie nicht verlassen kann und gegen die sie anläuft. Eine Flucht nach vorn gewissermaßen, die ziellos, aber produktiv ist.
Das nicht vergehende Arbeitermilieu. Die Vergangenheit als Chance?
Ob Edouard Louis ("Das Ende von Eddy"), Ocean Vuong ("Auf Erden sind wir kurz grandios") oder hierzulande Christian Baron ("Ein Mann seiner Klasse"), Deniz Ohde ("Streulicht") und Hendrik Bolz ("Nullerjahre") - die Prägung der sozialen Herkunft äußert sich künstlerisch zuweilen brutal, rücksichtslos und energetisch. Getrieben werden diese Werke oftmals von einer Wut, die zwischen frühkindlichen Erfahrungen und gegenwärtiger Perspektive zu verorten ist. Eine Wut, die der französische Schriftsteller Edouard Louis - nicht zufällig ein Schüler Didier Eribons - einmal als Erkenntnisinstrument beschrieben hat. Der Schreibprozess bedeutet hier: Aushöhlung, Korrekturversuch. Die gegenwärtige Positionierung, die in den genannten Fällen schreibend vor sich geht, ist nicht von der Bearbeitung der einstigen, verlassenen Position zu trennen.
So bedeutet der ständige Kampf gegen die nie enden wollende Vergangenheit also auch die beständige Bearbeitung eines schier unerschöpflichen Komplexes. Gelingt es, die im Zuge dieser Bearbeitung entstehenden Reste, das Abgetragene, die Splitter und Späne künstlerisch aufzufangen und zu verarbeiten, entstehen im Zweifel Bücher, die uns Klassismus mitunter näher bringen können, als es jene Sachbücher tun, deren Autorinnen und Autoren aus der gegenüberliegenden, also akademischen Perspektive blicken.
Künstlerisch kann vielleicht nicht die Klasse, wohl aber die ziellose und schier endlose Bearbeitung der Klassenherkunft eine Chance sein. Auch wenn sich hier gleich nächste Hürden und Gefahren auftun, wie etwa die Neigung, die Herkunft zu romantisieren, zu stilisieren. Wer den eigenen Opferstatus als Aushängeschild in die Welt trägt, gehört jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit einer Klasse an, unter der jene Autorinnen und Autoren litten, die heut mit ihren Romanen überzeugen.
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